Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
Vom Netzwerk:
hinüber. Im Hintergrund näherte sich die Welle. Und davor schien der Felsen, der die Stadtburg umgab, von innen zu bersten.
    »Verdammt!«, murmelte der Fischer. »Jetzt geht alles zu Ende.«
    »Schnell, komm doch! Weiter!«
    Sie rannten so schnell sie ihre Füße trugen in die Stadt hinein.
     
     
    Uthman und Henri hoben die Schwerter. Hinter ihnen taten Jesus de Burgos und Ludolf von Suchen mit den Hellebarden dasselbe. Sie alle stießen grelle Laute aus. Auch Madeleine fasste eine Hellebarde, schien aber nicht mehr genug Kraft zum Kämpfen zu besitzen. Sean hielt zwei Stilette in den Händen, aber er taumelte.
    Plötzlich kam etwas in Bewegung. Weder die Gefangenen noch die Soldaten begriffen, was da geschah.
    Der Boden wankte. Von der Decke fielen kleine Steine. Eine Fackel brach an der Wand aus ihrer Halterung. Von draußen war ein ohrenbetäubendes Kreischen zu hören. Und nach einer Weile hörte man jemanden rufen: »Ein Seebeben! Ein Seebeben!«
    Die Wachleute blickten sich an. Schon senkten sie die Waffen. Erneut bebte der Boden. Etwas schlug mit einem dumpfen Poltern in der Nähe ein, Steinstaub stieg auf, es roch nach Sand, eine Hitze machte sich breit, wie von einem gigantischen Feuer.
    »Raus hier!«, schrie der Anführer der Wachen. »Sofort alle raus!«
    »Und die Gefangenen?«
    »Egal, egal! Jetzt müssen wir unser eigenes Leben retten!«
    Henri war inzwischen ganz wach. Er packte Sean. Uthman griff sich Madeleine. Die beiden Pilger rannten schon los. Gemeinsam kamen sie draußen an. Was sie sahen, verschlug ihnen die Sprache.
    Vom Meer her rollte eine so hohe Welle auf sie zu, schwarz, mit einer weißen Krone, dass der Himmel sich verdunkelte. Auf dem Hof der Stadtburg lagen Felsbrocken, von den Felsen kullerten Steine herab. Die ganze Insel schien zu wanken. Und in der Luft lag ein giftiger Geruch, so als öffneten Vulkane ihre Höllenpforten.
    »Vor dem Tor warten Pferde!«, rief Uthman Henri zu.
    Sie liefen hinaus, so schnell es ging. Um sie herum rannten schreiende Wachsoldaten auf die Brücke zu. Niemand achtete mehr auf die Gefangenen. Die Gefährten überquerten die Holzbrücke. Am Ufer erwartete sie der Stallknecht. Er hatte Angst, das sah man deutlich, seine Lippen bebten. Aber er hatte tapfer ausgeharrt.
    Uthman steckte ihm eine Goldmünze zu. Dann setzte er Madeleine auf ein Pferd. Er half Henri dabei, Sean in einen Sattel zu heben. Dann saßen Ludolf und Jesus auf. Uthman sprang auf sein Pferd. Als Letzter saß Henri auf.
    Henri wendete sein Pferd um. Er sah, dass die Holzbrücke zwischen Ufer und Stadtburg eingestürzt war. An ihren Trümmern, die im Meer trieben, versuchten Menschen, sich festzuklammern. In diesem Moment erreichten die Vorboten der großen Welle das Ufer. Auch diese kleineren Wellen, durch das unterirdische Seebeben ausgelöst, waren gewaltig genug, um alles mit sich fortzureißen. Noch immer stürzten Felsbrocken von der Insel ins Meer. Die Fahne von Famagusta brach in diesem Augenblick von ihrem Mast auf dem Burgdonjon und polterte in den Burghof.
    Henri löste sich vom Anblick des Untergangs. Er wendete sein Pferd und gab ihm die Sporen.
    In rasendem Galopp ritten die Gefährten landeinwärts. Hinter ihnen hatte die Riesenwelle jetzt das Ufer erreicht. Sie riss alles mit sich und kam immer näher. Die ersten Häuserreihen von Famagusta wurden überspült und zerstört. Erst an den höher gelegenen Stadtteilen kam das Wasser zur Ruhe.
    Dann wurde es unheimlich still.
    Es war unnatürlich heiß, und die Hitze nahm immer noch zu. Und es blieb still, so still, als hielte die Natur den Atem an. In der Luft lag ein Geruch, der aus dem Innern der Erde kam.
    Aber das merkten die Gefährten schon nicht mehr. Tief über die Hälse ihrer fliehenden Pferde gebeugt, jagten sie dahin, um diese mörderische Stadt weit hinter sich zu lassen.

 
    16
     
     
     
    Anfang März 1320. Im Gebirge Karpasia
     
    Im herrlichen Gefühl ihrer wiedergewonnenen Freiheit ritten die Gefährten in ruhigem Trab auf Trikomo zu. Hinter der alten Stadt mit ihren weißen Häusern lag die Festung Kantara. Hier war der Zugang zur Halbinsel Karpasia, dem Zeigefinger Zyperns. Hier begann das Gebirge.
    Die Gefährten hielten weiten Abstand von der Bergfestung der Lusignans, von der aus sie die Wege nach Famagusta kontrollierten. Während man auf dem höchsten Wachturm kleine Gestalten hin- und hergehen sah, dachte Henri an Joshua.
    Wie mochte es ihm inzwischen auf der Halbinsel Karpasia ergangen sein?

Weitere Kostenlose Bücher