Das neue Evangelium
verteilten sie weiter, je nach den Bedürfnissen.«
»Barnabas war also ein Apostel?«, fragte Sean, »und gehörte zu den Zwölfen, die Jesus eingesetzt hatte?«
»Zu den zwölf gehörte Barnabas nicht, ebenso wenig wie Paulus«, erklärte Henri. »In der jüdischen Tradition – aber das könnte Joshua besser erläutern – waren Apostel Abgesandte, die zur Inspektion der Diasporagemeinden und zur Abführung der Abgaben von der Zentralbehörde in Jerusalem entsandt wurden. Ihre Zahl war beträchtlich. Aber die zwölf Apostel, die Jesus bestimmte, waren ein fester Kreis. Es gibt eine Stelle bei Paulus, wo er für Barnabas und für sich den Rang und Titel eines Apostels fordert. Aber die Apostel verweigern ihm und Barnabas dies, obwohl sie deren Missionsarbeit sehr schätzen.«
»Lukas nennt immer nur die zwölf die Apostel!«, warf Ludolf von Suchen ein, der jetzt auch zu Henri und Uthman aufgeschlossen hatte. »Er führt diesen Namen auf Jesus zurück. Bei Markus haben sie eine andere Bedeutung, er nennt sie eine Gruppe, die zur Mission und zur Austreibung der Dämonen entsandt wird.«
»Die Bibel ist nicht immer ganz eindeutig«, mischte sich nun auch Jesus de Burgos ein. »Man hat lange keinen Wert darauf gelegt, die historischen Hintergründe zu prüfen, weil alles um Jesu Leben herum von Anbeginn im Licht der Heiligkeit erschien. Wozu dann auf den Kalender schauen.«
»Anders als bei Mohammed«, sagte Uthman. »Da er nur als Mensch galt, der vom Erzengel Gabriel eine gewisse Aufgabe übertragen bekam und später Gottes Offenbarungen vernahm, ist sein Leben ganz exakt aufgeschrieben worden. Vor allem von Aischa, seiner Lieblingsfrau, und von dem schreibkundigen Sklaven aus Persien, Zaid.«
»Als Apostel zu gelten«, sagte Jesus, »brachte damals einige Vorrechte mit sich, deshalb war Paulus bestrebt, für sich und Barnabas einen solchen Status zu besitzen. Apostel durften auf Kosten der Gemeinde leben, mussten nicht selbst arbeiten und durften eine Schwester als Bedienstete auf allen Wegen mit sich führen.«
»Barnabas ging also nach Zypern«, konstatierte Uthman.
»Ja, er ging dorthin, wo er geboren worden war, aber er blieb mit der Muttergemeinde in Jerusalem in engstem Kontakt, das wissen wir aus Briefen. Er sprach natürlich die Sprache der Zyprioten und konnte deshalb hier problemlos missionieren. Alle lobten ihn als einen vortrefflichen Mann. Irgendetwas ist dann aber mit ihm geschehen. Wir wissen es nicht. Er wandelte sich wohl. Und Paulus zwang die Urgemeinde, sich von ihm abzuwenden.«
»Er schrieb dieses neue, islamische Evangelium!«, rief Sean spontan.
»Langsam, Sean!«, mahnte Henri. »Das ist reine Spekulation. Uthman hat ja seine Einwände gegen diese Annahme deutlich gemacht, und ich glaube ihm. Aber etwas Seltsames muss damals geschehen sein. Sah Paulus ihn wirklich auffahren in den dritten Himmel und Dinge sehen, die niemand aussprechen darf? Was waren das für Dinge, von denen Paulus spricht? Und woher weiß er, was Barnabas im dritten Himmel widerfuhr?«
»Es ist nur ein Gleichnis«, vermutete Jesus. »Paulus meint damit, Barnabas sei der Gnade des Himmels teilhaftig geworden.«
»Dafür ist die Schilderung zu dramatisch«, sagte Henri nachdenklich.
»Barnabas hatte damals Kontakte in Antiochien und danach in Zypern, die ihn vom Weg abbrachten«, vermutete Ludolf von Suchen.
»Das ist möglich«, sagte Henri. »Barnabas hörte jedenfalls plötzlich mit der Heidenmission auf. Und Paulus wandte sich von ihm ab. Im Galaterbrief spricht Paulus über ihn: Barnabas ließ sich von der allgemeinen Heuchelei mitreißen. Was meint Paulus damit? Niemand weiß es. Noch im ersten Korintherbrief beschrieb Paulus den Barnabas als sich selbst gleichgestellt, auf einer Stufe mit den übrigen Aposteln. Jetzt wendet er sich von ihm ab, nennt ihn einen Heuchler. In dieser Zeit kann Barnabas das neue Evangelium geschrieben haben – folgt man nicht Uthman ibn Umar.«
Alle lachten auf. Es war das erste Lachen seit langer Zeit. Auch Madeleine, die sich von Uthman fern hielt und bedrückt schien, weil die Geschichte mit Grimaud sie bekümmerte, lächelte.
Madeleine und Uthman hatten noch immer nicht miteinander gesprochen. Es war zu viel geschehen. Beide verschoben die Aussprache ans Ende dieser Reise, die Nordspitze der Halbinsel Karpasia. Spätestens hier mussten sie die passenden Worte füreinander finden. Dann gab es keine Ausflucht mehr. In Gedanken sprachen sie sich bereits alles vor, was zu
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