Das neue Evangelium
sagen war.
»Barnabas traf in dieser Zeit den Johannes Markus«, setzte Henri seine Erzählung fort. »Er kannte ihn aus Jerusalem, es war ein schwieriger Mensch, ein glühender Apostel, aber sehr eigensinnig. Paulus mochte ihn nicht, aber Barnabas liebte ihn. Paulus wollte nicht mit Johannes Markus zusammenarbeiten, er weigerte sich. Er warf ihm vor, sie in ihrer gemeinsamen Arbeit allein gelassen zu haben, um zu Petrus überzuwechseln. Es gab also Kämpfe unter den Aposteln. Paulus und Barnabas jedenfalls stritten sich heftig. Und sie trennten sich und gingen seitdem keinen Weg mehr gemeinsam. Barnabas und Markus blieben zusammen, sie gingen aufs Neue nach Zypern. Hier verliert sich die Spur des Barnabas. Aber es gibt aus dieser Zeit einen geheimnisvollen Brief von ihm, das letzte Zeugnis.«
»Was steht in diesem Brief? Ich kenne ihn nicht«, bekannte Jesus de Burgos.
»Er ist von der Papstkirche immer als eine apokryphe Schrift behandelt worden. Ich konnte ihn in der Bibliothek des Vatikans einsehen, als ich mich auf einer Pilgerreise in Rom befand. Darin steht, dass für ihn, Barnabas, das Judentum und die Gesetze völlig erledigt sind und dass die gesamte Offenbarung des Alten Testaments lediglich allegorisch auf Jesus zu beziehen ist. Dass das Christentum einer falschen Richtung folgt. Dass die Judenchristen die Gebote Gottes missverstanden und sich dadurch unrettbar der Sünde ausgeliefert hätten.«
»Na also!«, rief Ludolf von Suchen. »Hier haben wir doch den Ketzer! Hier haben wir doch den Verfasser dieses neuen Evangeliums! Dann ist es doch echt!«
Alle schwiegen einen Moment lang. Sie mussten auch auf den Weg achten, einen schmalen Pfad, der in halber Höhe an einem Berghang entlangführte.
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, seufzte Henri.
»Denk nicht! Folge deinem Gefühl! Fühle deinen Glauben!«, rief Jesus de Burgos. »Wir Templer haben doch immer gefühlt, was richtig und was falsch ist! Sonst hätten wir die Untaten nicht verantworten und später auch kritisieren können, die im Heiligen Land verübt worden sind – auch von uns!«
»Das stimmt«, sagte Henri. »Aber das macht mich nicht ruhiger. Und glücklicher schon gar nicht.«
»Wer ist schon glücklich?«, sagte Madeleine. »Geht es nicht immer nur darum, das größte Unglück zu vermeiden?«
Nach einer Nacht in einem verfallenen Kloster, dessen Mauern noch aus der Zeit der frühesten Christen stammen mussten, erreichten sie am Morgen den Ort Lythrangomi. In einer Zisterne tranken sie und füllten frisches Wasser in ihre Ziegenledersäcke. Dann ritten sie weiter.
Über der Landschaft, durch die sie kamen, lag ein geheimnisvolles Licht. Es war ein altes und gesegnetes, urchristliches Land.
Henri dachte, dass die Bedeutung dieses Landes von der Papstkirche bewusst heruntergespielt worden war. Lagen hier womöglich die letzten Geheimnisse der Christenheit verborgen?
Was war hier im ersten Jahrhundert geschehen?
Henri spürte, dass sie auf diese Frage im Kloster des Andreas eine Antwort erhalten würden.
Sie ritten jetzt zügig, weil die Luft sich abgekühlt hatte. Eine frische Brise kam von Norden.
In Madeleine und Uthman reiften allmählich Entschlüsse. Sie versuchten, sich klar darüber zu werden, wozu sie sich bald entscheiden mussten. Nur noch zwei Tage, bis für beide die Stunde der Wahrheit kommen würde.
Die Landschaft ähnelte mehr und mehr einer Wüste. Schlangen und Salamander huschten durch den warmen Sand. Goldbraun erstreckte sich vor den Reitern der Untergrund, unterbrochen nur von Dornen und Disteln. Hier wuchs nichts weiter als die Hoffnung, bald ans Meer zu gelangen.
Nach einer weiteren Nacht, diesmal im Freien, traten die Gefährten den letzten Tagesritt an. Am Abend oder in der Nacht hofften sie, die Landspitze zu erreichen. Henri schloss Joshua in sein Gebet ein.
Hinter Lythrangomi wurde es noch einsamer. Der Wind wehte den Sand in kleinen Wirbeln über die Weite, die Reitenden fühlten sich an das unselige Famagusta erinnert. Hier im Norden der Insel war alles auf Sand gebaut, sie hofften, nicht auf Treibsand.
Henri überlegte wie es weitergehen sollte. Auf jeden Fall wollte er ans Meer. Dort oben, an der nördlichsten Spitze Zyperns, würde es keine Spitzel geben, hoffte er. Sie würden sich einen kleinen, unbewachten Fischerhafen suchen. Und dann musste sich geklärt haben, wer mit ihm die weitere Reise antrat.
Henri wollte auf jeden Fall zusammen mit Sean nach England fahren. Er
Weitere Kostenlose Bücher