Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
und wieder Quecksilberthermometer oder -barometer herunterfallen und zerbrechen, kann die Quecksilberbelastung dieser Räume recht hoch sein. Aber auch der Quecksilbergehalt in der ganz normalen Umgebungsluft ist – vor allem durch Kohlekraftwerke – in den letzten hundert Jahren stark angestiegen. Das Quecksilber begnügt sich nicht damit, eine dünne Schicht auf der Oberfläche der Legierung zu bilden. Das allein wäre schon unpraktisch genug, denn da es mit dem Platin eine dauerhafte Verbindung eingeht, lässt sich das Quecksilber nicht einfach durch Putzen wieder entfernen. Aber es zieht auch ins Innere der Prototypen ein, wie die britischen Forscher Peter Cumpson und Martin Seah in den 1990er Jahren zeigen konnten. Selbst das wäre noch verkraftbar, wenn der Prozess wenigstens nach kurzer Zeit abgeschlossen wäre. Cumpson und Seah kamen allerdings zu dem Schluss, dass es bis zu 600 Jahre dauern kann, bis sich der Quecksilbergehalt stabilisiert. Man kann Kilogramm-Prototypen aber kaum nach der Herstellung erst einmal 600 Jahre ruhen lassen.
Es gibt noch viele andere Umwelteinflüsse, die dazu führen können, dass die Kilogramm-Prototypen leichter oder schwerer werden: Die Platin-Iridium-Legierung enthält im Neuzustand kleine Mengen Wasserstoff, der sich im Laufe der Zeit verflüchtigt, an der Luft langsam, im Vakuum etwas schneller. Aus Städten, Nadelwäldern und Massentierhaltungsbetrieben entweichen Kohlenwasserstoffverbindungen, die ins Labor eindringen, unter die Glasglocken schlüpfen und an den Kilogrammprototypen festkleben. Chemikalien aus der Umgebungsluft dringen zum Teil in das Material ein, zum Teil lagern sie sich so an, dass es keinen klaren Übergang zwischen Platin-Iridium-Legierung und Schmutz gibt. Vermutlich finden alle diese Prozesse (und noch ein paar unbekannte) gleichzeitig statt und zerren in verschiedenen Richtungen am Gewicht der Prototypen.
So kann es nicht weitergehen. Wenn selbst mit höchster Präzision gefertigte Kilogramm-Prototypen aus teuren Edelmetallen unter multiplen Glasglocken machen, was sie wollen, muss ein anderes Verfahren her. Experimente und Überlegungen dazu werden schon seit einigen Jahrzehnten angestellt. Das Internationale Büro für Maß und Gewicht sprach schließlich 2005 die offizielle Empfehlung aus, das Kilogramm so neu zu definieren, dass es von einer Fundamentalkonstante abgeleitet werden kann. Man fasste das Jahr 2010 für ein Ergebnis ins Auge, denn 2011 tagt die Generalkonferenz für Maße und Gewichte , die das neue Kilogramm dann verabschieden könnte.
Die Forderungen an die Neudefinition lauten: Das neue Kilogramm muss mit dem alten kompatibel sein. Es soll mit Hilfe einer möglichst robusten Apparatur von jedermann jederzeit und überall erzeugt werden können. Die Definition soll an Schulen und Universitäten gelehrt werden und daher für Studierende aller Fächer verständlich sein, und das neue Verfahren sollte präziser sein als das bisherige. Mindestens drei unabhängige Ergebnisse sind für die Neudefinition erforderlich, und eines davon muss eine Genauigkeit von 20 Mikrogramm pro Kilogramm oder weniger aufweisen.
Von ursprünglich vier Lösungsansätzen waren zum Entstehungszeitpunkt dieses Buchs noch zwei im Rennen: die Wattwaage und das Avogadro-Projekt. Die Wattwaage ist eine Art hyperkomplizierte Briefwaage, von der es bisher weltweit fünf Stück gibt. Die Waagen, die beim Vergleich der Kilogramm-Prototypen zum Einsatz kommen, sind Massenvergleichswaagen, also im Prinzip Geräte, wie man sie manchmal noch auf altmodischen Marktständen sieht: Auf die eine Waagschale kommt ein Gewicht mit der Aufschrift «1 kg», auf die andere das, was man mit dem Gewicht vergleichen möchte, zum Beispiel Kartoffeln oder eben ein anderes Kilogrammgewicht. Massenvergleichswaagen haben schon seit Jahrzehnten eine so hohe Präzision erreicht, dass sie Unterschiede von weniger als einem Mikrogramm pro Kilogramm feststellen können. Will man aber ein Kilogramm ohne jeden Vergleichsgegenstand bestimmen, braucht man eine Waage, die eine Aussage über die Masse eines einzelnen Dings treffen kann. Solche Waagen gibt es schon lange, aber Präzisionswaagen fürs Labor erreichen bestenfalls eine Genauigkeit im 100-Mikrogramm-Bereich. Schon für diese gebräuchlichen Varianten ist ein hoher Aufwand erforderlich; zum Beispiel wird die Laborwaage vor Ort genau für die dort herrschenden Schwerkraftverhältnisse kalibriert, man kann sie nicht einfach ins
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