Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Auseinandersetzung das umstrittene Sandförmchen nicht mehr existiert und alle Nachbarhäuser in Schutt und Asche liegen, haben auch Außenstehende ein Interesse an der Vermeidung von Streit.
Seit einigen Jahrzehnten wird daher verstärkt daran geforscht, wie man Kriege verhindern könnte. Ein Ansatz ist dabei die statistische Analyse vergangener Kriege: Verschiedene Forschungseinrichtungen pflegen Datenbanken, in denen sie möglichst viele Details zusammentragen, die Einfluss auf das Kriegsgeschehen haben könnten. Zwar ist kein Krieg wie der andere, aber es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Konflikten, und wenn es gelänge, die zugrundeliegenden Regeln besser zu verstehen, wären Kriege wahrscheinlich leichter zu beenden oder zu vermeiden. Die Kategorien wie «Krieg», «Bürgerkrieg», «Kriegsende», «Demokratie», «Diktatur», die über Aufnahme und Einordnung in eine solche Datenbank entscheiden, lassen allerdings Spielraum für Interpretationen, und so gibt es eine ganze Reihe dieser Projekte mit jeweils eigenen Datensammlungen.
Aus den darin zusammengetragenen Daten lassen sich Zusammenhänge in großer Menge ableiten. Nur ein paar Beispiele: Je höher die Zahl der Außengrenzen eines Landes, desto höher ist die Kriegswahrscheinlichkeit. Staaten mit mehr Macht und Status sind häufiger in Kriege verwickelt. Vorhandene Kriege in einer Region erhöhen die Wahrscheinlichkeit weiterer Kriege. Dauerhafte Rivalität zwischen zwei Staaten erhöht die Kriegswahrscheinlichkeit. Junge Demokratien sind dann besonders konfliktgefährdet, wenn die umliegenden Länder keine Demokratien sind. Ein hoher Anteil von Rohstoffexporten am Bruttoinlandsprodukt geht mit höherer Konfliktwahrscheinlichkeit einher, ebenso wie das Vorhandensein von genau zwei ethnischen Gruppen, eine ungleichmäßig im Land verteilte Bevölkerung, viel Verwandtschaft im Ausland oder bergiges Gelände. Politische Missstände hingegen scheinen zumindest bei Bürgerkriegen keine große Rolle zu spielen.
Diese Form der Analyse vergangener Kriege entspricht den im Kapitel →Übergewicht beschriebenen epidemiologischen Studien mit ihren Vor- und Nachteilen. Eine Vielzahl verwirrender Variablen ist zu berücksichtigen: der Reichtum der untersuchten Staaten, ihre politische Stabilität, die Vorgeschichte, der Zustand der Nachbarländer, klimatische und geographische Bedingungen, Entfernungen, Allianzen, militärische Verhältnisse und so weiter. Das macht die Verlockung für Forscher groß, so lange an den Daten herumzurechnen, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt. Und beim Krieg ist es – anders als beim Übergewicht – aus praktischen, ethischen und finanziellen Gründen unmöglich, die so gewonnenen Hypothesen in kontrollierten Studien zu überprüfen. Man kann schlecht vier Regionen mit Freiwilligen bevölkern – zwei davon als Kontrollgruppe –, an den Parametern drehen und abwarten, ob es zum Krieg kommt. (Es dürfte sich nicht einmal um Freiwillige handeln, wenn man realistische Bedingungen schaffen will. Andererseits sind Zwangsumsiedlungen auch keine Lösung. Empirie ist ein schwieriges Geschäft.)
Deshalb lässt sich von allen so gewonnenen Erkenntnissen nur sagen, dass sie gleichzeitig mit einer höheren oder niedrigeren Kriegswahrscheinlichkeit auftreten (vorausgesetzt, die beteiligten Forscher haben im Statistiksemester aufgepasst, was nicht immer der Fall ist), und nicht, dass das eine Phänomen das andere auslöst. So gibt es zur oben erwähnten Beobachtung vom «Ressourcenfluch» die Erklärung, dass Rohstoffreichtum korrupte Regimes und Neid aus dem Ausland anzieht und damit Konflikte auslöst. Aber auch die umgekehrte Version klingt plausibel: Vielleicht sind es Konflikte und Korruption, die den hohen Anteil von Rohstoffexporten am Bruttoinlandsprodukt verursachen, weil die Wirtschaft sich nur dem einfachen Abbau der natürlichen Ressourcen widmen kann. Vermutlich ist man als Forscher dankbar für Korrelationen wie die einer höheren Kriegswahrscheinlichkeit in bergigem Gelände – immerhin ist in diesem Fall halbwegs klar, dass es nicht der Krieg ist, der das Land bergig macht.
Eine Vielzahl an konkurrierenden Erklärungen gibt es insbesondere für das Phänomen, dass demokratische Staaten keine Kriege gegeneinander führen. Nur einige Beispiele: Demokratien verfügen über größere Ressourcen und sind daher unattraktive Kriegsgegner. Die Signale der Kriegsbereitschaft oder -abneigung, die Demokratien aussenden, sind weniger
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