Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Nachbarlabor tragen und dort verwenden. Die Wattwaage muss ebenfalls ohne ein Vergleichsgewicht auskommen, aber da von ihr eine wesentlich höhere Genauigkeit erwartet wird, vergrößern sich Gerät und Probleme entsprechend: Wattwaagen sind zwei Stockwerke hoch und kosten in der Anschaffung etwa 1,5 Millionen Dollar. Außerdem benötigt man für ihren Einsatz drei bis fünf Experten sowie ziemlich viel flüssiges Helium zur Kühlung der supraleitenden Magneten, die das Gewicht in der Waage halten. Die Bestimmung der Länge eines Meters ist ein beliebtes Experiment im Physikunterricht; die Bestimmung des Kilogramms mit der Wattwaage wird es sicher nicht werden.
Die Wattwaage soll nacheinander zwei Funktionen erfüllen: Zunächst benutzt man sie zur präziseren Bestimmung des Planck’schen Wirkungsquantums, von dem man an dieser Stelle nur zu wissen braucht, dass es eine wichtige →Naturkonstante in der Quantenmechanik darstellt. Dazu verwendet man ein letztes Mal einen der Kilogramm-Prototypen. Dann wird das Planck’sche Wirkungsquantum ein für alle Mal auf den Durchschnitt der besten Messungen festgelegt. Wenn alles geklappt hat, ist das Kilogramm jetzt als diejenige Masse definiert, bei der das richtige Planck’sche Wirkungsquantum herauskommt, wenn man sie mit einer Wattwaage vermisst.
Das Avogadro-Projekt nähert sich einer neuen Kilogrammdefinition ebenfalls auf Umwegen, indem es zunächst die Avogadro-Konstante neu und präziser als bisher bestimmt. Die Avogadro-Konstante ist gewissermaßen der Umrechnungsfaktor zwischen der Gewichtsskala der sichtbaren Welt und der der Atome. Sie gibt an, wie viele Atome in zwölf Gramm Kohlenstoff stecken, nämlich ungefähr 602 Trilliarden. Da Atome notorisch schwer zu zählen sind, kann man die Avogadro-Konstante bisher nur schätzen, und das Avogadro-Projekt ist ein Verfahren, zu einer solchen Schätzung zu gelangen. Zu diesem Zweck wurden unter der Koordination der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zwei Kugeln aus dem Silizium-Isotop 28 hergestellt, die ziemlich genau ein herkömmliches Kilogramm wiegen (Letzteres weiß man, weil man sie mit den Kilogramm-Prototypen Frankreichs, Deutschlands und Japans verglichen hat). Weil Silizium eine regelmäßige Kristallstruktur bildet, genügt es, das Volumen des einzelnen Siliziumatoms und das Volumen der Kugel zu kennen. Teilt man jetzt das Kugelvolumen durch das Atomvolumen, ergibt sich die Zahl der Atome in einem Kilogramm. Das Kochrezept wäre dann: Man nehme soundso viele Atome Silizium 28, fertig ist das Kilogramm.
Das Avogadro-Projekt ist auch nicht billiger als die Wattwaage, denn jede der zwei Kugeln hat ungefähr 3,2 Millionen Dollar gekostet. Schulklassen, die kein ganz so genaues Ergebnis brauchen, könnten aber einfach einen Würfel aus Kohlenstoff mit einer Seitenlänge von ungefähr 8,11 Zentimetern aussägen – die Details hängen davon ab, um welche Art Kohlenstoff es sich handelt und wie dessen Kristallstruktur aussieht. Dieser Würfel enthielte im Groben die erforderliche Anzahl von Atomen und wöge damit ein Kilogramm.
Von der Wattwaage am britischen National Physical Laboratory wurde 2007 vermeldet, sie erbringe Ergebnisse mit einer Genauigkeit von 70 Mikrogramm. Gleichzeitig war die Wattwaage des amerikanischen National Institute of Science and Technology (NIST) schon bei 36 Mikrogramm angekommen. Leider klafften die beiden Ergebnisse um 300 Mikrogramm auseinander. Die britische Wattwaage wurde 2009 aus Budgetgründen nach Kanada verkauft und war dort zum Entstehungszeitpunkt dieses Buchs noch nicht wieder in Betrieb; an den drei anderen Wattwaagen in Bern, Paris und Trappe wurde noch gebastelt. Auch die Ergebnisse aus dem Avogadro-Projekt hatten 2010 noch nicht die erforderliche Genauigkeit erreicht und wichen außerdem vom Ergebnis der einzigen funktionierenden Wattwaage ab.
Das Urkilogramm hat einen Vorteil: Sein Fehler ist gleich null, denn es verkörpert nun mal das Kilogramm. Das ist bei den beiden neuen Verfahren nicht der Fall. Sie bringen Messungenauigkeiten mit sich, die sich nicht vollständig aus der Welt schaffen lassen. Wattwaagen sind anfällig für Störungen durch entfernte Erdbeben, die Gezeiten, den Luftdruck, in der Nähe vorbeifahrende Züge und vieles mehr. Aber auch bei den Siliziumkugeln des Avogadro-Projekts müssen Fehlerquellen wie das Oxidieren der äußeren Siliziumschichten korrekt geschätzt und beim Berechnen der Ergebnisse einkalkuliert werden. Man kann nur
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