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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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festlegen, welchen Ungenauigkeitsbereich man zu tolerieren bereit ist, und dann versuchen, die Technik so weit zu verfeinern, dass die Schwankungen der Ergebnisse sich innerhalb dieses Bereichs bewegen. Wahlweise kann man die erforderliche Genauigkeit neu festlegen, ein Handgriff, mit dem das NIST 2006 aus schlecht übereinstimmenden Ergebnissen der Wattwaage akzeptable machte. Der amerikanische Mathematiker Theodore Hill (→Benfords Gesetz) bemängelt dieses Vorgehen: «Grundlagenphysik per Komiteebeschluss? In der Kilogrammbranche ist offensichtlich viel Politik im Spiel.»
    Hill findet beide Verfahren viel zu kompliziert, zu anfällig und nicht zukunftssicher. Jeder Fortschritt in der Messtechnik würde wieder eine Änderung der Kilogrammdefinition nach sich ziehen. Außerdem hält er es für unmöglich, das neue Kilogramm «Schülern und Studierenden aller Fächer verständlich zu machen», wie es in der Vorgabe des BIPM heißt. Schon ihm als Mathematiker sei die Wattwaage komplett unverständlich. Zusammen mit seinem Kollegen Ron Fox hat er deshalb einen Gegenentwurf vorgelegt: Die Avogadro-Konstante soll einfach auf eine geeignete ganze Zahl festgelegt werden, so wie es bei der Lichtgeschwindigkeit und der Sekunde ja auch geschehen ist. Diese Zahl sollte der besseren Anschaulichkeit halber die Anzahl der Atome in einem Würfel beschreiben, also eine Kubikzahl sein. Im Bereich der bisherigen Annäherungen an die Avogadro-Konstante gibt es nur zehn Kubikzahlen. Fox und Hill schlagen vor, unter diesen zehn diejenige Zahl auszuwählen, die dem bisherigen besten Schätzwert am nächsten liegt, nämlich 844 468 893. Das Siliziumkugelexperiment könnte weiter genauso verlaufen wie bisher, aber jetzt würde die Avogadro-Konstante die Masse der Kugel bestimmen, und anstatt die Kugel abzuwiegen, würde man mit Hilfe der Kugel die Waage kalibrieren.
    Der Vorschlag der beiden Mathematiker begeistert die zuständigen Physiker offenbar wenig. Es ist nicht anders als in anderen Branchen auch: Wenn man an Prestigeprojekten arbeitet, in die schon viel Geld geflossen ist, möchte man gern Ergebnisse sehen und eine Tafel «Hier entstand unter großen Mühen das neue Kilogramm» an sein Institut montieren. Dasselbe gilt natürlich für die Konkurrenz zwischen Wattwaage und Siliziumkugeln.
    Anfang 2011 wurde der bisherige Zeitplan daher gekippt und die Neudefinition auf die übernächste Konferenz im Jahr 2015 verschoben. «Ich hoffe, dass dann die endgültige Entscheidung fällt», zitiert die BBC den ehemaligen BIPM-Direktor Terry Quinn. «Aber es ist Wissenschaft, also wer weiß.» Eines Tages wird es jedenfalls so weit sein, und das neue Kilogramm kann dann als externer Schiedsrichter zumindest Anhaltspunkte dafür liefern, was die Kilogramm-Prototypen unter ihren Glasstürzen so treiben, wenn niemand guckt.

[zur Inhaltsübersicht]
    Krieg
    – All other trades are contained in that of war.
    – Is that why war endures?
    – No. It endures because young men love it and old men love it in them.
    – Those that fought, those that did not.
    – That’s your notion.
    Cormack McCarthy, «Blood Meridian»
    Zum Krieg kommt es, so eine gängige Annahme, wenn ein Staat einem anderen Staat das Sandförmchen wegnimmt. Diplomatische Bemühungen um die Rückgabe des Sandförmchens scheitern, man haut einander mit der Plastikschaufel auf den Kopf, und es gibt Geschrei. Danach hat entweder derjenige das Sandförmchen, der sich am geschicktesten angestellt hat – die «rationalistische» Theorie des Krieges. Oder aber beide Seiten heulen und wünschen sich, sie hätten nie damit angefangen. Das ist die Theorie vom Krieg als irrationaler Eskalation.
    Die Vorstellung vom Krieg als rationalem Mittel der Außenpolitik wurde in Europa populär, als man den Dreißigjährigen Krieg gerade so einigermaßen vergessen hatte. Führt ein Herrscher zur Durchsetzung seiner Interessen einen Krieg von überschaubarem Umfang, dann lässt sich das Geschehen mit Hilfe solcher Theorien gut erklären. Nach dem Ersten Weltkrieg aber wollten diese Deutungen nicht mehr so recht zu den Tatsachen passen, und es entstanden neue Theorien vom Krieg als letztmöglichem Ausweg in einer schwierigen Lage. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts breitete sich dann schließlich die Ansicht aus, der Krieg sei in jedem Fall ein zu vermeidendes Debakel. Das hat unter anderem mit der Erfindung der Atombombe zu tun. Um bei der Sandkastenmetapher zu bleiben: Wenn nach der

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