Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
wird dem Besucher vielleicht ersatzhalber einen Vergleich mit einem der «Hauptnormale» anbieten, Edelstahlgewichte, die einmal im Jahr mit dem Prototypen verglichen werden, der wiederum ungefähr alle zehn Jahre zur Kontrolle nach Paris gebracht und dort mit dem Urkilogramm verglichen wird. Es ist alles ein wenig unbefriedigend.
Noch unbefriedigender: Auf das Urkilogramm ist kein Verlass. Ungefähr alle fünfzig Jahre werden möglichst viele Duplikate aus aller Welt nach Paris gebracht und dort mit dem Original verglichen. Das ist bisher dreimal geschehen: einmal kurz nach der Einführung, dann nach und nach in den Jahren um 1950 und um 1990. Bei der dritten Messung stellte sich heraus, dass das Urkilogramm und die Kopien sich auseinanderentwickelt hatten: Das Pariser Urkilogramm war relativ zu den Kopien um 50 Mikrogramm leichter geworden. Beziehungsweise kann es genauso gut sein, dass alle anderen Kopien schwerer geworden sind. Und da auch die einzelnen Kopien auseinanderdriften, ist nicht einmal auszuschließen, dass alle Prototypen ihr Gewicht in irgendeine Richtung verändert haben, das Pariser Urkilogramm nur eben etwas mehr oder weniger als die anderen. Man weiß es nicht, denn es gibt kein Ur-Urkilogramm, das als Schiedsrichter herhalten könnte. Das Pariser Urkilogramm ist die Definition des Kilogramms – wenn es sein Gewicht verändert, verändern alle Kilogramme der Welt ihr Gewicht. Noch schlimmer wäre, wenn das Urkilogramm geklaut würde, denn dann käme den Physikern im wahrsten Sinne des Wortes eine Basiseinheit abhanden.
Für die tägliche Praxis ist die Unzuverlässigkeit des Urkilogramms relativ folgenlos, denn Wissenschaftler und Techniker verwenden für ihre Alltagsarbeit genormte Edelstahlgewichte, deren höchste Qualitätsklasse E1 eine Abweichung von 500 Mikrogramm pro Kilogramm erlaubt. 50 Mikrogramm hin oder her spielen da keine Rolle, Kuchenrezepte gelingen nach wie vor. Aber es wird einfach nicht gern gesehen, wenn sich Grundlagen der Wissenschaft so undiszipliniert benehmen. Außerdem hängen viele andere Einheiten vom Kilogramm ab: Newton, Pascal, Joule, Watt, Ampere, Coulomb, Volt, Tesla, Weber und, da sie auf dem Watt basieren, sogar die Helligkeitseinheiten Candela, Lumen und Lux.
Was ist also los mit den Kilogramm-Prototypen? Im Spiegel hieß es im Jahr 2003: «Möglicherweise, so eine Erklärung, hatte man das Urkilogramm schlicht zu häufig geputzt und so ein paar Atome von der Oberfläche heruntergeholt.» (Mit «ein paar Atome» ist hier etwas in der Größenordnung von einigen Milliarden gemeint.) In der Tat werden alle Prototypen nicht im Vakuum, sondern an der Luft aufbewahrt, setzen dadurch im Laufe der Zeit Schmutz an und werden messbar schwerer. Man reinigt sie daher vor jedem Vergleichsvorgang. Das zuständige französische Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM), das die Vergleiche durchführt, hat dafür eine eigene Putzmethode entwickelt, von der Zwangsneurotiker noch lernen können: Zuerst muss der beim Putzen eingesetzte Lederlappen gereinigt werden, und zwar dreimal hintereinander. Dann folgen mehrere komplizierte Waschvorgänge mit Äther, Ethanol und doppelt destilliertem Wasser, nach denen das Kilogramm erst einmal sieben bis zehn Tage ruhen muss. Da man einen Prototypen leicht vor und nach dem Putzen mit einem zweiten vergleichen kann, sind die Folgen dieser Reinigung präzise erforscht: Je nachdem, wie lange die letzte Wäsche zurückliegt, werden dabei zwischen 5 und 60 Mikrogramm Material entfernt. Ein zweiter Putzvorgang schafft noch einmal bis zu 10 Mikrogramm, ein dritter lohnt sich nicht. Danach werden die Prototypen sofort wieder schwerer; in den ersten drei Monaten nach dem Putzen etwas schneller, dann verlangsamt sich der Prozess. Allerdings hat die Kilogramm-Putzforschung ergeben, dass über die zwei Reinigungsvorgänge hinaus selbst energisches Reiben mit dem Lederlappen keine messbaren Auswirkungen auf die Masse der Prototypen hat. Die 50 Mikrogramm können also nicht einfach abgeschrubbt worden sein.
Einer Theorie zufolge ist das Pariser Urkilogramm gar nicht leichter geworden, sondern hat einfach weniger zugenommen als seine Kopien. Diese Hypothese fußt unter anderem auf der Tatsache, dass das Urkilogramm unter drei Glasstürzen aufbewahrt wird, alle Kopien aber nur unter zwei. Das Platin in der Platin-Iridium-Legierung verbindet sich zum Beispiel gern mit Quecksilberatomen aus der Umgebungsluft. Da in meteorologischen Laboren hin
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