Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
die eine Seite der ontologischen Lücke gar nicht gibt, dann gibt es auch die Lücke nicht, weil eine Lücke mit nur einer Seite eher ein Rand ist. Die Debatte darum, ob es Qualia gibt, und wenn ja, was sie nun eigentlich sind, kann entsetzlich verwirrend sein, aber trotzdem macht sie eine Heidenfreude. Es wimmelt in ihr nämlich von Dingen, die sonst nur in eher philosophiefernen Filmen und Büchern vorkommen. Neben Nagels Fledermaus – die übrigens illustrieren soll, dass Qualia objektiv nicht zugängliche Privaterfahrungen sind und sich der Untersuchung prinzipiell entziehen – gibt es da ganze Armeen philosophischer Zombies, eine Farbenforscherin, die im Leben noch nie eine Farbe gesehen hat, Qualophile und Qualophobe. Es ist ein regelrechter Zirkus, mit anderen Worten.
Manege frei: Wenn man versucht, die Existenz von Qualia als rein geistige Entitäten im Gegensatz zum materiellen Rest der Welt zu behaupten, kommt man, wie oben angedeutet, der ontologischen Lücke wegen in Teufels Küche. Aber das muss doch gar kein Problem sein, könnte man denken. Dann sind diese Qualia eben nichts Geistiges, sondern vollständig in einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt enthalten – dass diese Beschreibung noch nicht annähernd existiert, stört in dem Fall nicht weiter, wichtig ist nur, dass sie möglich ist. Philosophen können sich an dieser Stelle in endlose Diskussionen darüber verstricken, was man damit meint, dass ein Ding durch ein anderes erklärt wird, und ob die Qualia dann mit Vorgängen im Gehirn identisch sind und was genau das eigentlich heißen sollte, aber wir sehen uns lieber die Farbforscherin Mary an, die der australische Philosoph Frank Cameron Jackson 1982 erfunden hat.
Mary, so geht das Gedankenexperiment, weiß alles, was es über das Farbensehen zu wissen gibt, hat aber ihr ganzes Leben in einem Raum verbracht, in dem es keine Farben gibt, weil Jackson alles in Grautönen angestrichen hat, einschließlich Mary selbst. Diese graue Farbforschungsstätte verlässt Mary nun eines Tages, nachdem sie ihrem Erfinder ein graues Betäubungsmittel verabreicht hat. Vor der Tür bekommt sie als Begrüßungsgeschenk eine reife, knallrote Tomate gereicht. Die kritische Frage des Gedankenexperiments ist nun: Hat Mary, als sie zum ersten Mal das Rot der Tomate gesehen hat, neues Wissen erworben? Wenn ja, argumentiert Jackson, dann muss es also erstens die Qualia wirklich geben, weil Mary durch das bloße Erleben der Rotwahrnehmung etwas gelernt hat, und das geht nur, wenn es dieses Erleben auch tatsächlich gibt. Und zweitens muss dieses Erfahrungswissen, das Quale des Farbensehens, über das bloß naturwissenschaftlich Beschreibbare hinausgehen, denn diese Beschreibung hatte Mary ja schon vor ihrer Begegnung mit der Tomate komplett verfügbar. Hallo, ontologische Lücke!
Damit steckt man natürlich erst mal in einer Falle: Folgt man dem Argument, muss es Qualia geben, und sie können nicht physikalisch sein. Der ontologischen Lücke wegen können sie aber auch nicht nicht physikalisch sein. Schachmatt. Man kann dieser scheinbaren Sackgasse allerdings leicht entgehen, indem man Jacksons Ausgangsargument einfach nicht mitmacht. Ein möglicher Einwand ist, dass Mary eben nichts gelernt hat, als sie die Tomate sah. Es ist nämlich gar nicht leicht, genau zu formulieren, welcher Natur dieses neue Wissen eigentlich sein sollte. Würde man Mary fragen, wie es sich angefühlt hat, zum ersten Mal Rot zu sehen, würde sie vermutlich feststellen, dass sie alles, was sie darauf explizit antworten kann, schon vorher gewusst hat. Rot sieht warm und aufregend aus, es macht mich ein bisschen aggressiv, und wenn ich mir einen Sportwagen kaufen würde, sollte er am besten diese Farbe haben. Aber weil sie ja alles über Farben schon vorher wusste, kann nichts davon sie überrascht haben. Das widerspricht natürlich unserer Intuition, wonach es einen Unterschied macht, das Erlebnis selbst zu haben, auch wenn man es in allen Details vorhersagen konnte. Auf die Rolle der Intuition kommen wir gleich zurück.
Zunächst einmal offenbart dieser Einwand ein grundsätzliches Problem von Gedankenexperimenten. Während richtige Experimente in den Worten Max Plancks Fragen an die Natur sind und Messungen die Aufzeichnung der Antwort, sind Gedankenexperimente letztlich Fragen ans eigene Gehirn. Und wenn man Gehirne fragt statt der Natur, muss man aufpassen, denn anders als die Natur können Gehirne lügen. Vielleicht ist das
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