Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
1986, vier Wochen nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, war im Spiegel zu lesen gewesen: «Die möglichen Schäden und langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit zu quantifizieren bleibt jedoch Glaubenssache – die Schätzungen, wie viele zusätzliche Krebstote es nach Tschernobyl weltweit geben werde, reichen von 4000 bis zu einigen hunderttausend.» Man könnte annehmen, die Frage ließe sich klären, indem man erst mal abwartet und später nachzählt, wie die Sache ausgegangen ist. Aber fünfundzwanzig Jahre danach hat sich an diesem weiten Spektrum der Schätzungen nicht viel geändert; die Untergrenze der von zahlreichen Institutionen und Forschern veröffentlichten Opferzahlen liegt immer noch bei 4000, die Obergrenze bei knapp einer Million. Was 1986 Glaubenssache war, ist es heute noch und wird es bis auf weiteres bleiben.
Um zu erklären, warum das so ist, müssen wir etwas weiter ausholen. Radioaktivität galt nicht immer als ungesund. Im späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Glaube an eine gesundheitsfördernde Wirkung schwacher ionisierender Strahlung weit verbreitet. Im Werbematerial der radioaktiven Zahncreme «Doramad» aus den 1940er Jahren hieß es: «Durch ihre radioaktive Strahlung steigert sie die Abwehrkräfte von Zahn und Zahnfleisch. Die Zellen werden mit neuer Lebensenergie geladen, die Bakterien in ihrer zerstörenden Wirksamkeit gehemmt. (…) Die unendlich kleinen Strahlenteilchen prallen auf das Zahnfleisch und massieren es.» Es gab Geräte, mit denen man sein Trinkwasser mit Radium «vitalisieren» konnte, das Reichenberger Diät-Speisehaus für vegetarische Kost und Rohkost hatte Radiumzwieback im Angebot, und das Radiumbad Oberschlema in Sachsen warb mit dem Satz «Das stärkste Radiumbad der Welt».
Na gut, könnte man denken, es war kurz nach der Bronzezeit, die Menschen damals hielten schließlich auch Heroin für Hustensaft und das Dritte Reich für eine gute Idee. Aber radioaktive Heilbäder gibt es immer noch, in Bad Schlema und an vielen anderen Orten in Europa. Bad Gastein wirbt mit der Heilkraft der radonhaltigen Luft seiner Bergwerksstollen, und im ungarischen Kurbad Hévíz und auf der Mittelmeerinsel Ischia kann man sich in radioaktiven Schlamm einpacken lassen. Die Wirkung solcher Anwendungen unterscheidet sich ihren Anbietern zufolge nicht wesentlich von dem, was die Zahncremewerbung behauptete: Die Strahlung soll die Zellen stimulieren und widerstandsfähiger machen. Viele Krankenkassen bezahlen diese Radiobalneotherapie zur Schmerzlinderung bei rheumatischen Erkrankungen, bei Hautkrankheiten, Asthma oder Heuschnupfen. Jedenfalls in Deutschland, wo Badekuren eine jahrhundertelange Tradition haben und die gesunde Radioaktivität von Fachleuten in weißen Kitteln beaufsichtigt wird. In den USA müssen Interessierte sich in privat bewirtschafteten rostigen Uranbergwerksstollen einfinden, und der Aufenthalt an diesen Orten gilt als «alternative Therapie», also als etwas, das man seinem Hausarzt besser verschweigt.
Wenn man Badekurveranstalter werden will, ist es günstig, auf einem Uranvorkommen zu sitzen. Aus diesem Uran entsteht durch radioaktiven Zerfall das Metall Radium und aus dem Radium wiederum das Edelgas Radon, das mit Wasser und Luft an die Erdoberfläche gelangt. Bei «Luftbädern» und Inhalationskuren wird Radon eingeatmet, bei Badekuren diffundiert es zusätzlich über die Haut in den Körper. Ein kleiner Teil des eingeatmeten Radons zerfällt im Körper wiederum zu Polonium, Wismut und Blei. Dabei entstehen energiereiche Alphastrahlen.
Das Radon der Kurkliniken ist das gleiche Radon, das unsere Wohnräume belastet, in Parterrewohnungen etwas stärker, im fünften Stock etwas weniger, da es aus dem Boden nach oben steigt. Bei Gebäuden empfiehlt die EU ab Konzentrationen über 400 Becquerel pro Kubikmeter Luft Maßnahmen zur Radonreduzierung. In Kurorten ist für die therapeutische Anwendung bei Inhalationen und Luftbädern eine Mindestaktivität von 37 000 Becquerel pro Kubikmeter festgelegt, knapp das Hundertfache des Wertes, der in Gebäuden als ungesund gilt. Radioaktivität ist also einerseits ein krankenkassenbezahltes Heilmittel, andererseits, wie überall zu lesen ist, noch in der kleinsten Dosis gesundheitsschädlich. Diese beiden Aussagen vertragen sich schlecht miteinander.
Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die Zuständigen glauben an unterschiedliche Theorien. Das ist ihr gutes Recht, denn bisher ist keins
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