Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
viele Studien aus anderen Ländern, aber die vorhandenen Daten deuten eher auf eine international vergleichbare Unzuverlässigkeit des weiblichen Orgasmus hin als auf einen Sonderstatus der angelsächsischen Länder. Dass die Forschungslage insgesamt zu wünschen übriglässt, kann man kaum Lloyd anlasten, die selbst auf die Probleme sexualwissenschaftlicher Datenerhebung hinweist. Zum einen ist das Feld der Sexualwissenschaften weltweit unterbesetzt und produziert insgesamt nur wenige empirische Studien, sodass über grundlegende Fragen heute nicht viel mehr als zu Kinseys Zeiten bekannt ist. Und der Großteil der vorliegenden Studien beschränkt sich auf das Befragen von Studenten oder Patienten, die sich wegen sexueller Probleme in einer Klinik eingefunden haben.
Diese Stichproben sind weit davon entfernt, repräsentativ für die Gesamtbevölkerung zu sein, allerdings ist es generell keine triviale Aufgabe, eine Studie «repräsentativ» zu machen. Angenommen, man wollte etwas über das Sexualleben der Deutschen herausfinden: Die einzige Stichprobe, die mit absoluter Sicherheit exakt den Verhältnissen in Deutschland entspricht, umfasst alle 80 Millionen Einwohner. Wer weniger betrachtet, muss Entscheidungen darüber treffen, in welcher Hinsicht die Stichprobe repräsentativ sein soll. Es ist praktisch unmöglich, in einer Stichprobe alle Verhältnisse der Religionen, Regionen, politischen Überzeugungen, Gesundheitszustände, Ernährungsgewohnheiten, Linkshänderanteile und bevorzugte Gummibärchenfarben korrekt abzubilden, und wer weiß, ob sich nicht doch einer dieser Aspekte als wichtig für die zu untersuchende Frage erweist?
Zu diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten kommen zwei Umfragenprobleme, die Sexualwissenschaftler stärker betreffen als andere: Erstens weigert sich ein mittelgroßer Teil der mühsam hergestellten repräsentativen Stichprobe einfach, am Telefon Fragen zum Sexualleben zu beantworten, und womöglich ist bei diesen Antwortverweigerern ja alles ganz anders als bei denen, die bereitwillig Auskunft geben. Zweitens verhält es sich mit Umfrageteilnehmern wie mit den Patienten von Dr. House: «Alle lügen», und zwar insbesondere dann, wenn eine bestimmte Antwort den Befragten besser aussehen lässt – also eigentlich immer. Wenn der Forscher also nicht persönlich dabei war, um den Orgasmus zu bezeugen (wobei er sich nicht auf den Augenschein verlassen darf, sondern physiologische Reaktionen nachmessen sollte), sind Auskünfte zur Orgasmuszuverlässigkeit und -häufigkeit für die Wissenschaft gerade mal besser als nichts.
Man könnte jetzt einwenden, dass es vielleicht auch Wichtigeres zu tun gibt als das Nachzählen von Orgasmen. Aber Sexualtherapeuten werden regelmäßig von Frauen aufgesucht, die beim Verkehr nicht oder nur mühsam zum Orgasmus kommen und sich deshalb Sorgen machen. Die offizielle Vorstellung davon, was den Normalzustand darstellt und was als «dysfunktional» gilt, ist für das Privatleben der Bürger wichtiger und folgenreicher als, sagen wir, das genaue Gewicht eines →Kilogramms. Falls eines Tages doch jemand eindeutig nachweist, dass der weibliche Orgasmus nur ein Versehen der Evolution ist, sollten wir allerdings schon mal über die Gründung von Bürgerinitiativen zu seiner dauerhaften Erhaltung nachdenken. Nur für alle Fälle.
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Qualia
«Aber das ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein.»
Thomas Nagel
In der Sprache des sogenannten gesunden Menschenverstandes – der ja in der Regel weder gesund ist, noch viel mit Verstand zu tun hat – sind die sogenannten Qualia diejenigen Teile des bewussten Erlebens, die seine Beschaffenheit und Substanz ausmachen. Es geht mit anderen Worten hier nicht um die Tatsache, dass zum Beispiel die Schmerzen in der Hand das Kind dazu bringen, die Hand eilig von der Herdplatte zu ziehen, sondern um den Gegenstand der wohl einfallslosesten Interviewfrage aller Zeiten: «Wie hat sich das angefühlt?»
Das Wort Qualia selbst hat übrigens trotzdem nichts mit Qual zu tun (das vom protogermanischen «kwilan» kommt), sondern mit dem lateinischen Wort für «so beschaffen», «qualis», das auch in der «Qualität» steckt. Und der Singular von Qualia, auch wenn man aufgrund klassischer Bildung vielleicht Qualium erwarten könnte, lautet Quale. Merke: ein Quale, viele Qualia, keine Qualen.
Das spezielle Wie der Qualia – man spricht auch vom
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