Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
sogar ihre Hauptaufgabe (→Wissen). Aber bevor wir uns das Problem der Gedankenexperimente näher ansehen, gibt es ein weiteres Gedankenexperiment, diesmal mit den versprochenen Zombies.
Dieses Argument existiert in vielen Varianten, entwickelt unter anderen von Thomas Nagel (dem Mann mit der Fledermaus) und dem britischen Philosophen Robert Kirk (der für seine Zombies bekannt wurde). Der Kern ist die Vorstellung, dass es zwei Menschen geben könnte, die in jedem kleinsten körperlichen Detail und in ihrem Verhalten übereinstimmen, aber der eine hat bewusstes Erleben und der andere nicht. Die Kopie ohne bewusstes Erleben nennt man einen Zombie, genauer gesagt einen philosophischen Zombie, um sie von den gehirnverzehrenden Untoten zu unterscheiden, die man aus dem Alltag kennt. Das Zombie-Argument besagt nun, dass die Vorstellbarkeit eines solchen philosophischen Zombies, also die Vorstellbarkeit exakt gleicher materieller Vorgänge mit und ohne Bewusstsein, bedeutet, dass das Bewusstsein über diese körperlichen Zustände und Vorgänge hinausgeht und etwas substanziell anderes sein muss. Wer diese Folgerung über die Beschaffenheit von Dingen aus bloßen Vorstellbarkeiten verwirrend findet, ist damit nicht allein. Man könnte sich fragen, ob philosophische Zombies die Gehirne ihrer Opfer nicht bloß auf andere Weise fressen als ihre Kollegen aus den Horrorfilmen.
Historisch geht diese Sorte von Argumenten auf drei Vorlesungen des amerikanischen Philosophen Saul Kripke zurück, die er 1970 in Princeton hielt und die unter dem Titel «Naming and Necessity» 1980 veröffentlicht wurden. Darin greift Kripke zurück auf René Descartes, der in seinen «Meditationen» als Erster argumentierte, dass Körper und Geist getrennt sein müssen, weil er selbst sie sich deutlich getrennt vorstellen könne. Kripke erweiterte dieses Argument beträchtlich und versuchte zu zeigen, dass jede Behauptung einer Identität – zum Beispiel die zwischen Geist und Körper – entweder in allen vorstellbaren Welten wahr sein muss oder in keiner davon. Woraus im Umkehrschluss folgt: Wenn die Behauptung in einer vorstellbaren Welt falsch ist, muss sie in allen Welten falsch sein. Und wenn das so ist, dann beweisen die philosophischen Zombies, dass Qualia nicht materiell sein können.
Kritiker wenden ein, dass die Vorstellbarkeit dieser Zombies mehr über unsere augenblickliche Intuition und unsere Vorstellungen von Bewusstsein und Körperlichkeit aussagt als über tatsächliches Bewusstsein und tatsächliche Körperlichkeit. Und sobald wir mehr über die Natur des Bewusstseins verstanden haben, werden möglicherweise Zombies nicht mehr vorstellbar sein, und wir verstehen, dass Marys Tomate doch nur eine Tomate war – und keine Frucht der Erkenntnis.
Der vielleicht radikalste Ausweg aus der ganzen Misere ist, anzunehmen, dass es nur eine einzige grundlegende Substanz gibt statt zweier, die wir Körper und Geist nennen, und dass die empirischen Gesetze der Wissenschaft beschreiben, wie sich diese Substanz verhält. Die Probleme, die uns Bewusstsein und Qualia aufgeben, hätten damit keine tiefen philosophischen Ursachen – insbesondere gäbe es keine ontologische Lücke –, sondern wären eben schlichtes Unwissen: Wir wissen noch nicht, wie Gehirnprozesse Bewusstsein hervorbringen. Hier klafft, in der philosophischen Fachsprache ausgedrückt, eine andere, einfachere Lücke, eine Erklärungslücke nämlich. Wenn deren Überbrückung gelungen ist, werden wir wissen, wie aus feuernden Neuronen bewusstes Erleben entsteht. Mal sehen, wie sich dieses Wissen dann anfühlt.
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Radioaktivität
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