Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
der möglichen Modelle zur Strahlenwirkung im niedrigen Dosisbereich eindeutig belegt oder widerlegt worden. Vier Theorien stehen zur Auswahl: das lineare Dosis-Wirkungs-Modell ohne Schwellendosis namens LNT (für linear no-threshold ), das Schwellenwert-Modell, das supralineare Modell und die Strahlungshormesis. In einer Graphik, die auf der X-Achse die Strahlungsdosis zeigt und auf der Y-Achse die Anzahl der dadurch verursachten Krebserkrankungen, wäre das LNT-Modell eine diagonale Linie von links unten nach rechts oben: geringe Strahlungsdosen verursachen wenig Krebs, hohe mehr. Im Schwellenwert-Modell verläuft die Linie zunächst flach: Niedrige Strahlungsdosen sind dem Körper egal, weil er die entstehenden Schäden wieder behebt; ab einem bestimmten Schwellenwert erhöht sich dann aber das Krebsrisiko. Umgekehrt ist es im supralinearen Modell: Hier verursachen gerade niedrige Strahlungsdosen größere Schäden, als nach dem LNT-Modell zu erwarten wären. Und in der Hormesis-Graphik geht die Kurve zunächst nach unten, denn dieser Theorie zufolge senken niedrige Strahlungsdosen das Krebsrisiko. Natürlich sind noch beliebig viele weitere Modelle denkbar, die als Graphik eine Wellenlinie bilden oder die Form einer sitzenden Katze haben. Sie werden aber von niemandem ernsthaft vertreten.
Das LNT-Modell beruht auf der Annahme, dass Strahlung im Körper wichtige Stellen der DNA zerschlägt und der Körper diese Schäden nicht immer korrekt behebt, sodass es zu Mutationen kommen kann, die womöglich Krebs auslösen. Es wurde Ende der 1950er Jahre als theoretische Orientierungshilfe eingeführt. Seine Befürworter argumentieren, es sei in Abwesenheit solider Daten besser, ein Strahlungsrisiko zu überschätzen, als es zu unterschätzen. Außerdem sei es das einfachste der zur Auswahl stehenden Modelle und suggeriere daher keine unrealistische Genauigkeit.
Das Leben auf der Erde hat sich zu einer Zeit entwickelt, als die natürliche Strahlung im Durchschnitt etwa dreimal so hoch war wie heute. Alles, was heute lebt, muss sich also in gewissem Umfang an dieses Strahlungsproblem angepasst haben, so argumentieren die Vertreter des Schwellenwert- und des Hormesis-Modells. Auch heute variiert die natürliche Hintergrundstrahlung stark: Während die durchschnittliche Strahlenbelastung für Menschen in Deutschland bei etwa zwei Millisievert pro Jahr liegt, sind es in Denver, Colorado, zehn und in verschiedenen Gegenden der Welt noch mehr. Rekordhalter ist der iranische Ort Ramsar, dessen Einwohner auf eine jährliche Dosis von bis zu 200 Millisievert kommen können. Den bisher vorliegenden Daten lässt sich nicht entnehmen, dass die Bewohner dieser Regionen kürzer leben oder kränker sind als andere Menschen.
Die Hormesis-Theorie steht nicht unbedingt im Widerspruch zur Annahme schädlicher Radioaktivitätswirkungen im niedrigen Bereich. Sie besagt lediglich, dass der konkrete Nutzen niedriger Strahlungsdosen bei bestimmten Anwendungen den möglichen Schaden aufwiegt. Man liest selten in der Zeitung von dieser These, aber es wäre ein Fehler, sie deshalb nicht ernst zu nehmen. In der Fachpresse hat sich die Zahl der Veröffentlichungen zur Hormesis in den letzten zehn Jahren vervielfacht.
Die Frage, welches dieser Modelle am besten zu den Tatsachen passt, wird allerdings offenbleiben, solange nicht jemand eine neue Methode erfindet, um die Antwort aus der Natur herauszukitzeln. Denn der eingangs zitierte Satz aus dem Spiegel ist doppeldeutig: Dass der Anstieg der Krebserkrankungen statistisch nicht nachweisbar war, klingt bei flüchtigem Lesen so, als existiere dieser Anstieg nicht. Es kann aber auch bedeuten, dass womöglich viele Menschen Krebs bekommen und die Statistik davon nur nichts bemerkt. Genau das ist hier auch gemeint. Es heißt nicht, dass die Statistiker mit ihren Gedanken woanders waren, sondern dass ihr Werkzeugkasten bei manchen Fragen nur begrenzt weiterhelfen kann.
Das zentrale Problem für die Forschung: Schwache Radioaktivität ist nicht ungesund genug. Wenn man hundert Versuchstiere einer hohen Dosis aussetzt und alle hundert wenige Wochen später tot sind, während in einer gleich großen Kontrollgruppe nur drei sterben, dann ist das statistisch eindeutig. Bei niedrigen Dosen dagegen passiert in vielen Fällen einfach gar nichts. Ein paar Tiere in der Versuchsgruppe bekommen Krebs, aber das ist in der Kontrollgruppe nicht anders; Krebs ist nun mal bei Menschen und den meisten Tieren
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