Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
Vom Netzwerk:
(→Walkrebs) auch ohne den Einfluss von Radioaktivität ziemlich häufig. Und man kann einer solchen Krebserkrankung nicht ansehen, ob sie durch Strahlung ausgelöst wurde; das Krankheitsbild ist das gleiche wie bei jedem anderen Krebs. Um nachzuweisen, dass Strahlung beim Menschen Krebserkrankungen verursacht hat, muss man deshalb belegen, dass alle dieser Strahlung ausgesetzten Menschen (nicht etwa nur die Raucher oder die Sammler von Antiquitäten aus Asbest) statistisch signifikant häufiger Krebs bekommen.
    Das ist viel schwieriger, als man annehmen könnte. Zunächst einmal ist die Anzahl der möglichen Krebserkrankungen durch niedrige Strahlungsdosen sehr klein. (Darüber sind sich tatsächlich alle Diskussionsteilnehmer einig, egal, ob sie von der Atomlobby oder von Greenpeace bezahlt werden.) Das Bundesamt für Strahlenschutz schreibt dazu: «Wenn 10 000 Personen mit zehn Millisievert bestrahlt werden, dann werden bis zu ihrem Lebensende zwölf Personen zusätzlich an Krebs und Leukämien sterben (nach derzeitigen statistischen Befunden sterben ohne Strahleneinwirkung von 10 000 Personen etwa 2500 an Krebs und Leukämie).» Eine Dosis von zehn Millisievert kann man sich etwa durch mehrere Stunden Aufenthalt auf dem Tschernobyl-Kraftwerksgelände zuziehen, durch zwei Computertomographien des Brustkorbs oder indem man ein Jahr lang in Denver, Colorado, wohnt. An der Formulierung, dass zwölf Personen bis zu ihrem Lebensende an Krebs und Leukämien sterben werden, könnte man sicher noch arbeiten, aber das Grundproblem wird klar: Eine Zunahme von Erkrankungen durch Strahlung geht in den zufälligen Schwankungen der Krebshäufigkeit unter. Ein hoher Anteil der Bevölkerung (in Industrienationen ungefähr die vom BfS erwähnten 25 Prozent) stirbt auch ohne zusätzliche Strahlungseinflüsse an Krebs. Und weil Menschen unterschiedliche Lebensgewohnheiten haben, verteilt sich diese Krebshäufigkeit sehr ungleichmäßig. Man sucht also nach einem winzigen Signal vor einem Hintergrund aus sehr viel Rauschen, den Wellen eines Steinwurfs in einem aufgewühlten Meer. Das meiste Rauschen kommt übrigens vom Rauchen, denn ein paar heimliche Raucher können die beste Lungenkrebsstatistik ruinieren.
    Obwohl die Statistik ein mächtiges Werkzeug ist, sind ihr in der Praxis durch die vorhandene Menge an Testpersonen Grenzen gesetzt. «Um die eventuell erhöhte Sterberate von Kindern zu quantifizieren», erklärte der Strahlenschutzexperte Klaus Henrichs nach dem Tschernobyl-Unfall dem Spiegel , «müßten wir allein in Bayern 100 Millionen Kinder untersuchen können.» Bayern hat aber insgesamt nur 12 Millionen Einwohner. Man kann sich das Problem anhand einer Münze veranschaulichen, die etwas unregelmäßig geformt ist und deshalb mit einer ganz leicht erhöhten Wahrscheinlichkeit mit der Zahl-Seite nach oben fallen wird. Wirft man die Münze nur ein paarmal, wird man davon nichts bemerken, weil die natürlichen Schwankungen größer sind als der winzige Effekt, nach dem man sucht. Erst bei einer sehr großen Anzahl von Würfen mitteln sich die Schwankungen heraus, und die leichte Abweichung wird sichtbar. Zuständig für diesen Sachverhalt ist das «Gesetz der großen Zahlen»: Je kleiner der Effekt ist, nach dem man sucht, desto größere Fallzahlen braucht man.
    Woher weiß also das Bundesamt für Strahlenschutz auch ohne diese großen Zahlen, dass nach der Bestrahlung zwölf von 10 000 Personen zusätzlich an Krebs und Leukämien sterben werden? Eigentlich gar nicht, denn diese Zahl ist eine Schätzung. Solche Schätzungen werden aus Beobachtungen bei hohen Dosen extrapoliert, und das sind vorwiegend die Daten aus Hiroshima und Nagasaki. Durch die beiden Atombombenabwürfe wurde eine große Anzahl von Menschen einer relativ gut bestimmbaren Strahlungsdosis ausgesetzt, die man aus dem Aufenthaltsort der Opfer zum Detonationszeitpunkt errechnen kann. Insgesamt wurden etwa 100 000 Überlebende aus den beiden Städten verstrahlt, über 90 Prozent von ihnen mit weniger als 500 Millisievert. Den Daten kann man entnehmen, dass die Häufigkeit aller Krebsarten zusammengenommen ab einer bestimmten Nachweisgrenze linear mit der Dosis ansteigt. Diese Nachweisgrenze liegt dabei je nach Quelle zwischen 30 und 200 Millisievert, schwankt also auch schon um eine Größenordnung. Das liegt daran, dass auch diese Stichprobe von um die 100 000 Menschen nicht annähernd so groß ist, wie sie sein müsste, damit man zu statistisch soliden

Weitere Kostenlose Bücher