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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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schon bei einem Streifschuss in Ohnmacht fällt. Darum ist es schwer, die Wirkung eines Schusses vorherzusagen oder aus einer beobachteten Wirkung zu folgern, was genau im Körper passiert ist.
    Messen kann man nur das Verletzungspotenzial eines Geschosses, obwohl auch das mit großen Problemen verbunden ist. Dazu taucht in der Literatur eine Vielzahl konkurrierender Maßzahlen auf, die «Stopping Power», «Relative Incapacitation Index», «Knockout Value» oder «Power Index Rating» heißen und unter anderem von der Geschossgeschwindigkeit, vom Kaliber oder vom Radius der temporären Höhle abhängen. Für ein und dasselbe Geschoss liefern diese Maßzahlen teilweise überraschend unterschiedliche Ergebnisse, was darauf hindeutet, dass sie alle die tatsächliche Wirksamkeit von Geschossen nur höchst ungenau wiedergeben. Das Militär ist vorwiegend an der Wahrscheinlichkeit interessiert, mit der ein Geschoss einen Soldaten vollständig außer Gefecht setzt. Auch dazu wurden über die Jahre diverse Kriterien vorgeschlagen, deren Übertragbarkeit auf die Realität wiederum zweifelhaft ist. Bis auf die triviale Erkenntnis, dass Menschen bei sehr hohen Geschossenergien sterben und bei sehr geringen eher nicht, kann man daraus nicht viel lernen. Die Reaktionen eines biologischen Systems auf einen Treffer sind zu kompliziert, als dass man sie mit generalisierten Modellen beschreiben könnte.
    Diese eklatante Diskrepanz zwischen der unordentlichen Wirklichkeit der Schussverletzung und unseren sauberen theoretischen Vorstellungen ist jedoch nur eine schwache Form von Unwissen. Immerhin wissen wir recht gut, warum die genannten Modelle scheitern. So ein Geschoss ist nur bis zum Auftreffen auf den Körper ein Forschungsobjekt der Physiker, dann mischen sich Biologen und Mediziner ein, von denen man nicht mehr verlangen kann, dass am Ende ihrer Ermittlungen eine mathematische Formel steht, die alles erfasst. Trotzdem gibt es in der Wundballistik auch echtes Unwissen, worunter das Problem des Schocktods fällt.
    Dabei geht es um die Kernfrage, ob Geschosse, die irgendwo im Körper landen, auch an ganz anderen Stellen lebensbedrohlichen Schaden anrichten können. Einwandfrei nachgewiesen wurde ein sogenannter «Schocktod» bisher nur bei kleineren Tieren, vor allem bei Hasen. Nach Treffern mit Schrotmunition bleiben Hasen gelegentlich leblos liegen, obwohl, wie sich bei der Sektion herausstellt, die Schrotkugeln nicht tief eingedrungen sind und keinen wichtigen Körperteil verletzt haben. Bei Menschen sind solche Fälle bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden.
    Abgesehen von den lokalen Druckwellen, die die temporäre Höhle erzeugt, entsteht beim Eindringen von schnellen Geschossen noch eine sogenannte Stoßwelle. Anschaulich handelt es sich dabei um die Ausbreitung des Schalls eines Geschosses im Körper. Stoßwellen, auch Schockwellen genannt, möchte man nicht so gern im Körper haben, außer, man lässt sich gerade von einem Lithotripter die Nierensteine zertrümmern. Sie entstehen in der Natur immer dann, wenn etwas sehr Schnelles sich durch ein ruhendes Medium bewegt, zum Beispiel bei Überschallflugzeugen, bei der Detonation von Bomben oder bei einer Supernova. Während sich die normalen Druckwellen nach Eintreten des Geschosses in Zeiträumen von Millisekunden ausbreiten, sind Stoßwellen noch tausendmal schneller unterwegs. An der Wellenfront entstehen extreme Druckunterschiede, die eventuell nicht gesund sind.
    Eine Gruppe von schwedischen Forschern führte zwischen 1987 und 1990 eine Reihe von Experimenten durch, um Fernwirkungen im Körper durch Stoßwellen zu untersuchen. Unter anderem wurde Schweinen ins linke Bein geschossen und mit Hilfe von Sonden im Gehirn, im Bauch und im anderen Bein die Ausbreitung der Welle vermessen. Die Stoßwelle erreicht demnach tatsächlich das Gehirn der Schweine, und zwar nach circa 300 Mikrosekunden (also knapp einem Drittel einer Tausendstelsekunde). Der Druckanstieg im Hirn war zwar schwächer als im Magen, betrug aber immer noch 1,5 Bar, also das Anderthalbfache des normalen Luftdrucks.
    Es ist durchaus denkbar, dass solche Druckveränderungen Probleme für die Beschossenen mit sich bringen. So zeigen andere Experimente, dass bei zwei Dritteln der Testschweine nach einem Beinschuss die Atmung aussetzt, bis zu 45 Sekunden lang. Auch ein Absinken der Gehirnströme wurde bei Schweinen nachgewiesen. Beides könnte mit der Stoßwelle zu tun haben; einfaches Erschrecken der

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