Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
kampferprobten Schweine durch Schüsse in die Luft reicht dafür nicht. Außerdem scheint der mit Stoßwellen verbundene steile Druckanstieg die betroffenen Zellen zu schädigen. Solche Gewebeveränderungen wurden sowohl an Zellkulturen als auch in Tierversuchen nachgewiesen, allerdings treten sie nicht unmittelbar auf, sondern erst nach Stunden. Wie es dazu kommt, ist unklar.
Stoßwellen können außerdem Nerven dazu anregen, irgendein Signal weiterzugeben. Der Effekt ist zumindest an isolierten Nerven von Ochsenfröschen nachgewiesen – ob er in echten Fröschen oder gar anderen Tieren vorkommt, ist unbewiesen. Eine Möglichkeit für einen plötzlichen Tod durch eine solche Nerventäuschung wird vom Schweizer Beat Kneubuehl in seinem Buch «Wundballistik» diskutiert, einem Standardwerk der Branche. Unterhalb des Ohres, wo sich die dicke Blutautobahn der Halsschlagader in zwei Straßen teilt, hat der Körper Sensoren eingebaut, die den Blutdruck messen. Stellen die Sensoren einen erhöhten Blutdruck fest, wird dies der zentralen Leitungsstelle im Nachhirn gemeldet. Die wiederum befiehlt dem Herzen, langsamer zu schlagen, damit der Blutdruck wieder sinkt – eines der vielen Regelsysteme, die im Körper für Ordnung sorgen. Wenn jetzt eine Stoßwelle den Sensor aktiviert, ohne jede Erhöhung des Blutdrucks, dann verwirrt man das System, und der Körper reguliert sich zum Herzstillstand.
Zumindest theoretisch könnte es also so etwas wie einen Schocktod geben – ein sofortiger Tod nach dem Treffer, auch wenn kein lebenswichtiges Organ getroffen ist. Der Begriff Schocktod ist trotzdem fragwürdig; er enthält das Wort «Schock», was für eine Kreislaufschwäche stehen könnte oder aber für die eben angesprochene Schockwelle, aber da niemand weiß, ob es so etwas wie einen Schocktod beim Menschen überhaupt gibt, ist es auch müßig, darüber zu klagen, dass es kein präzises Fachwort dafür gibt. Noch verwirrender ist es, von einem «hydrostatischen Schock» zu sprechen, einem Begriff, der in diesem Zusammenhang oft auftaucht, denn «statisch» ist bei Schussverletzungen gar nichts.
Es handelt sich nur um ein winziges Korn Unwissen – ein paar ungeklärte Hasentode, angereichert mit einigen plausiblen und durch Experimente gestützten Erwägungen zu möglichen Auswirkungen von Stoßwellen im Körper. Man ist schon daran gewöhnt, dass Unwissen zu Legendenbildung führt, aber im Falle des Schocktodes ist das Verhältnis zwischen der Menge an Legenden und dem Ausmaß des Unwissens, auf dem die Legenden beruhen, unverhältnismäßig groß.
Jäger verwenden den Begriff des «hydrostatischen Schocks» regelmäßig bei der Erklärung ihrer Heldentaten. Der Amerikaner Jim Carmichael zum Beispiel erzählt in einem Beitrag für das Jagdmagazin «Outdoor Life», es sei ihm einst gelungen, einen riesigen Afrikanischen Büffel zu erlegen, obwohl er mit einer Waffe unterwegs war, deren Kaliber seiner Meinung nach viel zu klein war, um den Büffel schnell zu töten. Afrikanische Büffel erreichen eine Schulterhöhe von 1,70 Metern und können bis zu eine Tonne wiegen. Carmichael zielte auch gar nicht auf den Kopf, sondern auf die Schulter. Er wollte den Büffel zunächst bewegungsunfähig schießen, um ihn dann mit weiteren Treffern zu erledigen. Stattdessen, so Carmichael, brach das Tier nach dem ersten Schuss schlagartig zusammen und stand nicht mehr auf. Jagdanekdoten dieser Art gibt es einige, aber leider taugen sie nicht für anständige Wissenschaft. Mal angenommen, die Geschichte stimmt, dann bleibt dennoch die Frage, warum der fragliche Büffel sich keine Sekunde länger auf den Beinen halten konnte. Vielleicht war er müde.
Ein anderer oft zitierter Beweis für die Existenz des hydrostatischen Schocks sind die Berichte vom «Strasbourg-Test». Dabei wurde, so heißt es, 611 Ziegen unter Verwendung von verschiedenen Waffen und Munitionsarten ohne Betäubung in die Brust geschossen. Bei allen Ziegen wurden währenddessen sowohl die Gehirnströme als auch der Druck in der Halsschlagader gemessen. Außerdem wurde exakt bestimmt, wie lange es nach dem Schuss dauert, bis die Ziege zusammenbricht. Dieser Tierversuch dauerte von April 1991 bis September 1992. Die Autoren – eine kleine Gruppe von Ärzten, Sanitätern und Technikern – berichten von den gewaltigen Anstrengungen während der 18-monatigen Testperiode und beklagen, dass nicht mehr Ziegen verfügbar waren. Eine der Schlussfolgerungen der Studie: Eine
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