Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
Vom Netzwerk:
Spiegelkalorien enthielte. Und selbst wenn es diese Spiegelmaterie gäbe, wäre das Universum insgesamt zwar symmetrisch, aber unsere herkömmliche Materie aus dem Supermarkt bliebe asymmetrisch, genau wie der Supermarkt selbst und der ganze Planet, auf dem er steht.
    Ob es Spiegelmaterie also gibt oder nicht – mit dieser sonderbaren schwachen Quarkkraft war jedenfalls ein Kandidat auf den Plan getreten, der zumindest im Prinzip die Asymmetrie organischer Moleküle hätte erklären können. Denn die Elektronen in der Atomhülle, die überwiegend für die chemischen Eigenschaften der Elemente verantwortlich ist, interagieren mit dem Atomkern unter anderem vermittels der schwachen Wechselwirkung (vermutlich, weil es trotz aller Bemühungen der Industrie immer noch keine Telefone gibt, die klein genug sind). Und weil diese Interaktion eine fundamentale Asymmetrie enthält, könnte die eine Form eines Enantiomerpaars ein klein bisschen stabiler sein als die andere. Auf lange Sicht würde sich die stabilere Form dann anreichern, und wenn erst einmal ein Überschuss von einer Sorte da ist, gäbe es auch noch eine positive Rückkopplung, weil dann die stattfindenden Reaktionen nicht nur eine kleine Neigung zu einem bestimmten Enantiomer hätten, sondern auch noch die Ausgangsstoffe ungleich verteilt wären. Das klingt alles ganz einleuchtend, aber nur, solange man nicht nachrechnet. Der ungarische Chemiker Gábor Lente hat das getan und kommt zu dem Schluss, dass es «sehr unwahrscheinlich» sei, dass «der Energieunterschied aufgrund der Symmetrieverletzung in der Frage biologischer Asymmetrie relevant ist». So drücken Wissenschaftler sich aus, wenn sie eine Theorie für Quatsch erklären. Oder für Quark, in diesem Fall.
    Eine andere Erklärung schlug 1991 der Kalifornier Daniel Deutsch vor, indem er mehrere ältere Ansätze zusammenfasste. Während der Dämmerung fällt Sonnenlicht in sehr flachem Winkel auf die Erdatmosphäre und durchquert lange Strecken, in denen allerhand Schwebeflusen schwirren. Die Streuung an diesen Staubteilchen führt dazu, dass Sonnenauf- und -untergänge sich tiefrot färben können, weil die kurzwellige, blaue Strahlung vom Staub bevorzugt beiseitegestreut wird.
    Andererseits ergibt sich bei dieser Mehrfachstreuung auch eine leichte Polarisation des einfallenden Lichts. Das führt dann dazu, dass im Licht des Sonnenaufgangs das linksdrehend polarisierte Licht ein wenig überwiegt und beim Sonnenuntergang das rechtsdrehend polarisierte. Das alleine würde noch nichts erklären, weil alle Tage ja sowohl einen Morgen als auch einen Abend haben und sich dieses Ungleichgewicht über die Woche ausgleichen würde. Deutschs pfiffiger Gedanke war nun aber, dass es abends im Durchschnitt deutlich wärmer ist als morgens. Und wenn es wärmer ist, laufen chemische Reaktionen schneller ab, was insgesamt bedeutet, dass Moleküle, die von rechtsdrehend polarisiertem Licht angeregt werden, über die Woche verteilt aktiver sind als ihre Spiegelbilder. Und mit diesem etwas verwickelten Argument hat Deutsch möglicherweise einen Mechanismus gefunden, mit dem die Asymmetrie biologischer Moleküle unvermeidlich ist.
    Aber genaue Zahlen über die Größe dieses Effekts hat niemand. Erst seit den 1980er Jahren gibt es überhaupt Geräte, die empfindlich genug sind, um den Polarisationsunterschied zwischen Sonnenauf- und -untergang nachweisbar zu messen. Diese verschwindende Winzigkeit des postulierten Effekts eint leider alle bisher vorgeschlagenen Erklärungen für biologische Asymmetrie. Das bedeutet, argumentiert der deutsche Physiker Werner Fuß, dass man erst mal sehr viele Moleküle braucht, damit der Mechanismus greifen kann: Je mehr Moleküle Lotto spielen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass eins davon den Hauptpreis gewinnt und linksdrehend wird. Das Problem dabei ist dasselbe, dem wir im Kapitel →Radioaktivität begegnet sind. Die Lotterie verschwindet im statistischen Rauschen, wenn man nur wenige Moleküle hat. Im Extremfall, wenn es überhaupt nur ein Molekül gibt, ist dieses Molekül entweder links- oder rechtsdrehend. Einhundert Prozent aller existierenden Moleküle – nämlich dieses eine – haben dann diese Drehrichtung, und ein subtiles Ungleichgewicht wird vollkommen unwichtig. Wenn darauf dann chemische Mechanismen aufbauen, die Asymmetrie in den Ausgangsstoffen erhalten oder verstärken, dann ist das Rätsel gelöst, und ein zufälliges Ungleichgewicht ganz zu Beginn, als das

Weitere Kostenlose Bücher