Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
dieser Zeit sonst nichts ändern. Sie ersetzen das Abendessen durch linksdrehenden Lauch und lassen ansonsten alles, wie es ist. Das ist allerdings nicht einfach. Jeder Mensch unterliegt an jedem Tag seines Lebens unzähligen Einflüssen, von denen die meisten ihm nicht einmal bekannt sind. Vielleicht ist der Verfechter der linksdrehenden Lauchtheorie im besagten Zeitraum umgezogen, und seine neue Wohnung liegt 500 Meter weiter von der U-Bahn entfernt. Vielleicht trinkt er seinen Frühstückskaffee aus einem neuen Plastikbecher, aus dem andere Chemikalien entweichen. Und vielleicht ist der linksdrehende Lauch gar nicht nützlich, sondern vollkommen egal, und in Wirklichkeit hat das durch den Lauch ersetzte Abendessen lediglich irgendeine besonders dickmachende Komponente enthalten.
Das sind Probleme, die nicht nur Privatpersonen betreffen. Auch Übergewichtsforscher haben Schwierigkeiten, Störvariablen zu kontrollieren. Eigentlich müsste man die Teilnehmer an Diätstudien einsperren, um sowohl ihre Nahrungszufuhr als auch Umwelteinflüsse und sonstige Aktivitäten über längere Zeiträume überwachen zu können. Das ist nicht prinzipiell unmöglich, aber sehr teuer und bei den Versuchspersonen unbeliebt. Billiger – wenn auch kaum weniger unbeliebt – ist das Einsperren und Kontrollieren von Versuchstieren. Allerdings steht man dann wieder vor dem Problem, dass Tiere gerade in Fragen der Körpergewichtsregulierung und des Fettstoffwechsels oft irritierend anders funktionieren als der Mensch. Deshalb bestellt man menschliche Teilnehmer bei den meisten Studien nur ab und zu ein und verlässt sich ansonsten darauf, dass sie sich an die Regeln halten. Wer während der Studie jede Nacht eine ganze Pommesbude leer gegessen hat, sollte das wenigstens ehrlich zu Protokoll geben. Nach allem, was man über die Selbstbeherrschung des Menschen weiß, über seine Ehrlichkeit in Diätfragen, seine Fähigkeit, das eigene Essverhalten korrekt einzuschätzen und seine Bereitschaft, ärztlichen Vorgaben zu folgen, zeigen solche Studien eher, was passiert, wenn man versucht , einer bestimmten Diät oder Lebensweise zu folgen. Für die Praxis schadet das nichts, denn die Endkunden werden es ja nicht anders halten, aber für die Forschung ist es unpraktisch.
Selbst wenn die Versuchspersonen alle Regeln eines Experiments strikt befolgten, hätten Übergewichtsforscher es schwerer als andere Ernährungsforscher. Will man etwas über den Nutzen von, sagen wir, Vitamin Y herausfinden, kann man der Nahrung mehr Vitamin Y hinzufügen und zum Vergleich eine Kontrollgruppe beobachten, die kein zusätzliches Vitamin Y bekommt (→Ernährung). Will man aber herausfinden, welche Auswirkungen Kohlenhydrate, Fett oder Kalorienreduktion auf den Menschen haben, dann muss man dafür sorgen, dass die Versuchspersonen abgesehen von der untersuchten Variable dasselbe essen wie eine Kontrollgruppe. Das Problem dabei: Anders als das erfundene Vitamin Y machen Kohlenhydrate und Fett einen großen Anteil unserer Nahrung aus. Man kann sie nicht einfach streichen, sondern muss sie durch etwas anderes ersetzen.
Das macht aus fettarmer Ernährung in der Praxis automatisch kohlenhydratreichere, aus kohlenhydratarmer Ernährung fettreichere. Und wenn es tatsächlich gelingt, einen dieser Anteile exakt konstant zu halten, den anderen aber restlos wegzulassen, ist wiederum unklar, ob das Weglassen einer bestimmten Komponente oder die allgemeine Kalorienreduktion Ursache der Gewichtsabnahme sind. Wenn man, wie es einige Forscher tun, davon ausgeht, dass es Fette und Kohlenhydrate ganz unterschiedlich dickmachender Art gibt, wird alles noch komplizierter. Auch wer anfängt, Sport zu treiben, wird nebenbei vermutlich etwas an seiner Ernährung ändern – sei es, weil er fitter sein möchte und deshalb weniger Bier trinkt, sei es, weil er beim Sport mehr Limonade in sich hineinschüttet oder hinterher Heißhunger auf Pizza verspürt.
Es ist, kurz gesagt, so gut wie unmöglich, nur einen einzigen Faktor der Lebensweise zu verändern und nicht gleichzeitig noch zehn andere. Das führt dazu, dass man aus vielen Ernährungsstudien alles Mögliche sowie dessen Gegenteil herauslesen kann – und in der Folge zu allgemeiner Zerstrittenheit der Übergewichtsbranche. Im Zusammenspiel mit dem dringenden Wunsch der Öffentlichkeit, zu erfahren, wie man dünn wird, entstehen so wechselnde Empfehlungsmoden. In den 1930er Jahren verordnete man übergewichtigen Patienten noch
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