Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
A und B, gleichzeitig auftreten, bedeutet das noch lange nicht, dass A die Ursache für B ist. Ebenso gut könnte B die Ursache von A sein, beide könnten aber auch von einer ganz anderen Ursache C ausgelöst werden. Vielleicht wird auch nur A von C ausgelöst, hinter B steckt ein viertes Phänomen D, wobei C und D wieder in irgendeinem Zusammenhang stehen und so weiter. Es lässt sich leicht zeigen, dass das Durchschnittsgewicht der Menschen in den Industrieländern zeitgleich mit der Verbreitung von Autos, Snacks und Rolltreppen gestiegen ist. Aber das beweist nicht, dass Autos, Snacks und Rolltreppen tatsächlich die Ursache des Übergewichts sind.
Es mangelt daher nicht an anderen Erklärungen. So hängen etwa Schlafmangel und Übergewicht zusammen, und das nicht nur, weil Dicke schlechter schlafen oder weil man im Schlaf nicht essen kann. Offenbar bringt Schlafmangel den Spiegel der appetitregulierenden Hormone Leptin und Ghrelin durcheinander, sodass sich Unausgeschlafene hungriger fühlen. Einer anderen Theorie zufolge tragen Heizungen und Klimaanlagen einen Teil der Schuld. In zu kalten oder zu warmen Umgebungen verbraucht der Körper mehr Energie als in den gemütlich temperierten Räumen, in denen wir einen Großteil unserer Zeit verbringen. Einflüsse im Mutterleib könnten ebenso eine Rolle spielen wie die größere Vermehrungsfreude Übergewichtiger, der Einfluss dickmachender Medikamente, das steigende Alter von Müttern sowie der Hang Übergewichtiger, sich zur Fortpflanzung mit anderen Übergewichtigen zusammenzutun.
2006 stellte sich heraus, dass die Zusammensetzung unserer Darmflora einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie viele Kalorien aus der Nahrung herausgeholt werden; dünne Mäuse wurden dick, nachdem man ihnen im Rahmen eines Experiments die Darmflora dicker Mäuse transplantierte. Je nach Besiedlung des Darms können Darmbakterien die eigentlich für den Menschen unverdaulichen Ballaststoffe nutzbar machen. Der «Kaloriengehalt» von Nahrungsmitteln hinge damit nicht nur davon ab, was man isst, sondern auch von der Art der Darmbesiedlung. Der Neurobiologe Frederick vom Saal hingegen hält Übergewicht für eine zivilisatorische Vergiftungserscheinung. Schuld ist seiner Theorie zufolge nicht individuelles Fehlverhalten, sondern der Einfluss bestimmter Chemikalien aus der Umwelt, allen voran Bisphenol A, die auf den Stoffwechsel wie Hormone wirken und zur Gewichtszunahme führen. Und auch für die Theorie, dass Virusinfektionen zumindest in manchen Fällen eine Rolle spielen, sind seit den 1990er Jahren einige Belege aufgetaucht. Übergewichtige haben etwa dreimal so oft wie Dünne eine Infektion mit einem bestimmten Adenovirus hinter sich. Für alternative Erklärungsmodelle spricht auch, dass das durchschnittliche Körpergewicht vieler in den Industrieländern lebender Säugetiere in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen ist.
Die Berichterstattung über solche Alternativtheorien endet meistens mit einem Absatz, in dem Forscher die Sorge äußern, Laien würden sich noch weniger vom Sofa wegbewegen und noch mehr Kartoffelchips in sich hineinstopfen, wenn sie von diesen Forschungsergebnissen wüssten. Dahinter steckt eine grundsätzliche Frage staatlicher Fürsorglichkeit: Soll man die Bürger ehrlich über den Stand der Forschung aufklären und sich mit Empfehlungen so lange zurückhalten, bis deren Nutzen einwandfrei belegt ist? Oder schubst man sie lieber schon mal in Richtung bestimmter Verhaltensweisen, die wahrscheinlich nicht schaden, auch wenn das bedeutet, dass man mit den Fakten etwas großzügiger umgehen muss? Der Nachteil der zweiten Option: Solange die Faktenlage derart unzulänglich ist, weiß man eben nicht, ob eine Empfehlung nicht doch Schaden anrichtet. Kritiker der Low-Fat-Empfehlungswelle sind der Ansicht, dass gerade diese Empfehlungen seit den 1970er Jahren zum erhöhten Konsum von Kohlenhydraten geführt und damit noch mehr Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck verursacht haben. Und Lebensmittel mit der Aufschrift «kalorienarm» oder «fettarm» beruhigen das Gewissen offenbar so sehr, dass die Käufer insgesamt mehr essen. Man hat es nicht leicht als Staat.
Andere Forscher bezweifeln, dass das Übergewichtsproblem überhaupt existiert. Der Politikwissenschaftler Eric Oliver argumentiert in seinem 2006 erschienenen Buch «Fat Politics», die «Übergewichtsepidemie» sei ein Produkt aus moralischer Empörung, windigen Statistiken und den finanziellen
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