Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
übersehen hätte, oder vielmehr überhören würde, ist, dass die Hörschnecke im Innenohr anders als herkömmliche Schnecken mit einer Flüssigkeit namens Perilymphe angefüllt ist. Schallwellen bewegen sich in Flüssigkeiten aber ganz anders als in Gasen, einfach weil in Flüssigkeiten die einzelnen Moleküle viel enger aufeinanderhocken. Will man da als Schallwelle durchdringen, muss man stärker schubsen als in der Luft, es bewegt sich aber trotzdem weniger. Und für die Übersetzung der relativ kraftlosen Schwingungen der angeschubsten Luft in die kraftvollen, engen, die in der Perilymphe der Hörschnecke gebraucht werden, ist das Hörknöchelchentrio zuständig.
Eine weitere Folge der dichteren Molekülpackung in Flüssigkeiten ist, dass auch die Schallausbreitung ein wenig anders funktioniert als in der Luft. Die Schallgeschwindigkeit im Ozean zum Beispiel hängt von der Wassertemperatur und vom Druck ab: Schall bewegt sich schneller in warmem Wasser und bei hohem Druck. Mit der Tiefe nimmt im Meer der Druck zu und die Temperatur ab. Die Temperaturabnahme allerdings ist nicht gleichmäßig: In der oberen Schicht des Meerwassers sorgen Wind und Wellen für eine gute Durchmischung, und die Temperatur fällt nur langsam. In der Tiefsee liegt das Wasser überwiegend unbewegt herum, sodass die Temperatur sich hier ebenfalls nur langsam mit der Tiefe ändert. Zwischen der kalten Tiefsee und dem warmen Oberflächenwasser muss es daher eine Wasserschicht geben, in der die Temperatur rasant absinkt, und es gibt sie auch. Sie heißt Thermokline. Innerhalb der Thermokline gibt es eine Zone, in der die Schallausbreitung langsamer ist als überall sonst im Meer: Drüber schwimmen Töne schneller, weil es da deutlich wärmer ist, und drunter schwimmen sie schneller, weil der Druck steigt.
Man könnte jetzt denken, dass eine Region, in der Geräusche sich besonders langsam ausbreiten, wie eine Art Unterwasser-Eierkarton den Schall verschluckt, aber eigenartigerweise trifft das Gegenteil zu: Ein Geräusch, das in der Thermokline erzeugt wird, breitet sich in ihr zwar langsamer aus als ober- oder unterhalb, doch das bedeutet auch, dass Teile der Geräuschwelle, die sich nach oben oder unten aus der Thermokline davonschleichen wollen, dort mit zunehmendem Abstand immer schneller werden. Dieser Geschwindigkeitsunterschied beugt die ausbüxenden Schallwellen wieder in die Thermokline zurück. Der Vorgang ähnelt der Bündelung von Licht in einem Glasfaserkabel und hat auch ein ähnliches Ergebnis: Unterwasserschall wird in dieser Wasserschicht gebündelt rund um die Welt geleitet. Deshalb heißt sie unter Wasserschichtexperten Geräuschbindungs- und -ausbreitungskanal oder abgekürzt «SOFAR-Channel» für das englische «Sound Fixing and Ranging». Wenn also vor der Küste von China ein Reissack in die Thermokline fällt, hört man das dank der SOFAR-Schicht im ganzen Pazifik.
Als die SOFAR-Schicht in den 1940er Jahren entdeckt wurde, war wie bei allen Entdeckungen niemand begeisterter als das Militär, das nun endlich den erstmals nachweislich von Leonardo da Vinci ausgesprochenen uralten Menschheitstraum vom Belauschen ferner Schiffe im großen Maßstab umsetzen konnte. Die US Navy baute Anfang der 1950er Jahre ein Netzwerk von Unterwasser-Ohren, das SOSUS-System («Sound Surveillance System» oder Geräuschüberwachungsanlage), mit dem Ziel, die Stecknadeln in vorbeifahrenden sowjetischen Atom-U-Booten fallen hören zu können. Ob das je gelang, ist natürlich streng geheim, aber die sowjetischen U-Boote selbst konnte man ab 1962 mittels SOSUS orten. Das Geräusch der knallenden Sektkorken dürfte damals in der Schallschicht kurzzeitig den Lärm der herunterfallenden Reissäcke übertönt haben.
Mit dem Aufbau des SOSUS-Lauschnetzes war ein evolutionärer Wettlauf zwischen Jäger und Beute angestoßen: Über die nächsten Jahre und Jahrzehnte lernte die Beute U-Boot, leiser und leiser durch die Meere zu schwimmen, und die Unterwasserohren der Lauschsysteme wurden besser und besser. Man kennt dergleichen Wettläufe aus der Videoelektronik. Kaum hatte der Verbraucher sich ein neues Gerät angeschafft (Beta, Video 2000, VHS, DVD), machten die Datenträger einen Evolutionsschub durch und entzogen sich den weit geöffneten Laufwerksmäulern. Und genau so, wie sich im Keller von Filmfreunden unnütze Geräte ansammeln, füllte sich das Meer bald mit veralteten Lauschstationen, die schließlich der Wissenschaft zur Verfügung
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