Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Interessen von Forschern, Diätanbietern und Pharmaunternehmen. Diäten und Untergewicht seien gesundheitsschädlicher als Übergewicht, und überhaupt sei der Hauptgrund für die wachsende Hysterie die Tatsache, dass die Schwelle, ab der jemand offiziell als übergewichtig gilt, seit den 1980er Jahren mehrfach gesenkt wurde.
Diese Schwelle liegt in Deutschland momentan bei einem Body-Mass-Index (BMI) von 25 für Übergewicht und einem BMI von 30 für Adipositas (Fettsucht), wobei keiner dieser Werte sich unmittelbar mit einem gestiegenen Krankheitsrisiko in Verbindung bringen lässt. Das ist auch gar nicht die Aufgabe des BMI, der das Körpergewicht in Relation zur Körpergröße misst und ursprünglich aus der Versicherungsmathematik stammt – er soll lediglich die statistische Einsortierung in die Kategorien «Untergewicht», «Normalgewicht» und «Übergewicht» ermöglichen. Er hat den Vorteil, dass er leicht zu errechnen ist, und den Nachteil, dass er häufig irreführende Ergebnisse erbringt, zum Beispiel bei Sportlern, Kindern, alten und kranken Menschen. Tatsächlich sieht es derzeit eher so aus, als lebten Menschen mit leichtem Übergewicht – das heißt einem BMI um 27 – am längsten und am gesündesten.
Die meisten Kritiker der Übergewichtsdiskussion streiten nicht ab, dass Zivilisationskrankheiten wie Diabetes auf dem Vormarsch sind und bei Dicken häufiger vorkommen als bei Dünnen. Sie plädieren lediglich dafür, auch hier Korrelation und Kausalität auseinanderzuhalten. Eric Oliver schreibt: «Nach dem bisherigen Stand der Forschung ist es ungefähr so sinnvoll, im Übergewicht den Verursacher von Herzkrankheiten, Krebs und anderen Krankheiten zu sehen, als hielte man verrauchte Kleidung, gelbe Zähne oder schlechten Atem für die Ursache von Lungenkrebs. Man verwechselt eine Begleiterscheinung mit der zugrundeliegenden Ursache.»
Neue Forschungsergebnisse bringen nicht unbedingt mehr Licht in die Sache. 2010 tauchten mehrere Studien auf, denen zu entnehmen war, dass der Anteil der Übergewichtigen in den USA allen alarmierenden Medienberichten zum Trotz in den letzten zehn Jahren gar nicht weiter gestiegen ist. Das ist aber noch kein Grund, an der Wissenschaft zu zweifeln oder gar zu verzweifeln. Sie hat schon ganz andere Probleme bewältigt, beispielsweise wissen wir seit 2010 endlich ganz genau, wie Katzen beim Trinken die Zunge bewegen. Manchmal dauert der Erkenntnisfortschritt eben etwas länger.
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Walkrebs
Scientists are very good at giving mice cancer.
Christopher Wanjek
Die meisten Paradoxa sind wie Katzengold: Von weitem schimmern sie wie echtes Unwissen, sieht man sie sich jedoch genauer an, stellt man fest, dass man es nur mit einem längst gelösten Scheinproblem zu tun hat. Aber manche Paradoxa sind doch verwertbar, zum Beispiel «Petos Paradoxon», benannt nach dem englischen Epidemiologen Sir Richard Peto, einem der meistzitierten Mediziner der Welt. Kurz gesagt geht es dabei um die Frage, warum Wale und andere große Säugetiere so überraschend selten Krebs bekommen.
Bösartige Tumore, auch Krebs genannt, entstehen, wenn eine anständige Zelle im Körper kaputtgeht und sich in ein rabiates Ding verwandelt, das sich unkontrolliert vermehrt. Dieser eine Satz fasst die gesamte Geschichte zwar einigermaßen korrekt zusammen, ist aber in fast jedem Detail erklärungsbedürftig. Dazu später mehr. Petos Paradoxon ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen einer naiven Erwartungshaltung und der Realität. Nimmt man an, dass die Wahrscheinlichkeit für eine solche Umwandlung bei jeder Zelle zu jedem Zeitpunkt gleich ist und das Krebswachstum immer auf die gleiche Weise funktioniert, dann sollten Krebserkrankungen mit zunehmendem Alter immer häufiger werden. Genau so ist es auch.
Außerdem sollten große Lebewesen, die aus vielen Zellen bestehen, häufiger Krebs bekommen als kleine. Ein mittelgroßer Hund ist etwa 1000-mal größer als eine Maus, ein Mensch etwa 3000-mal und ein Blauwal sechs Millionen Mal. Wenn die naive Vorhersage wirklich stimmt, dann müssten Wale so oft Krebs haben wie wir Schnupfen, was nicht der Fall zu sein scheint. Krebs gibt es zwar bei vermutlich allen Tieren, aber die Häufigkeit hängt nicht vom Volumen des Tieres ab – Petos unerklärtes Paradoxon.
Stimmt eine Vorhersage nicht mit den Messwerten überein, ist entweder die Vorhersage falsch oder die Messwerte. Oder beides. Die zur Verfügung stehenden Daten über Krebs bei
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