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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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Bei jeder Teilung wird der genetische Code einmal abgeschrieben, damit jede der beiden neuen Zellen eine Kopie mitnehmen kann. Dieser Kopiervorgang ist nicht hundertprozentig fehlerfrei, bei jeder Zellteilung verändert sich der Code ein kleines bisschen. Außerdem werden die Gene immer mal beschädigt, zum Beispiel durch den Einfluss von UV-Strahlung oder bestimmte Chemikalien.
    Diese Veränderungen im genetischen Programm, Mutationen genannt, sind die Voraussetzung für die Evolution: Ab und zu entsteht dadurch ein Lebewesen mit einem besonderen Feature, das besser mit der Welt klarkommt als seine Kollegen und mehr Nachkommen erzeugt. Ohne diesen Prozess würde es den Blauwal, die Spitzmaus und den Beutelteufel gar nicht erst geben. Die meisten Mutationen sind allerdings nicht vorteilhaft, und manche sind eindeutig ein Problem. Die Umwandlung einer normalen Zelle in eine Tumorzelle beruht auf einer Serie von ungünstigen Mutationen. Krebs ist der Preis, den Lebewesen für die Evolution bezahlen müssen.
    Mit diesen Kenntnissen bewaffnet, kann man sich mehrere neue Erklärungen für Petos Paradoxon ausdenken. Vielleicht kommen Mutationen bei großen Tieren einfach seltener vor als bei kleinen – die Fehlerquote beim Abschreiben des Gencodes wäre demnach geringer. Ausschließen kann man das wohl nicht, dazu ist die Datenbasis zu dürftig. Bei Labormäusen und Menschen, den beiden am besten untersuchten Säugetierarten, sind die Mutationsraten allerdings schon mal ähnlich, was der Erklärung ein wenig den Boden unter den Füßen wegzieht. Eine andere Variante: Die Anzahl der Mutationen, die für die Entstehung einer Krebszelle erforderlich ist, könnte von der Körpergröße abhängen. Vielleicht muss man bei einer Mauszelle nur an ganz wenigen Stellen den Gencode umbauen, um sie in eine Tumorzelle zu verwandeln, bei einem Wal dagegen an deutlich mehr Stellen. Auch das ein plausibler Ansatz, aber wenn das so wäre, müsste man wieder im Mensch-Maus-Vergleich Unterschiede sehen, was nicht der Fall ist.
    Zellen sind der Evolution und damit auch der Tumorbildung nicht hilflos ausgeliefert. Sie verfügen über ein Arsenal an Techniken, um den genetischen Code zu reparieren und sich vor den Folgen fehlerhafter Kopien zu schützen. Vermutlich funktionieren diese Mechanismen auf irgendeine Weise bei großen Tieren besser als bei kleinen. In diesem Zusammenhang sollte man sich eventuell das Wort «Telomerase» merken, womöglich der Schlüssel zur Lösung von Petos Paradoxon.
    Gesunde Zellen teilen sich nicht, wie sie gerade lustig sind, sondern nur, wenn man ihnen die Erlaubnis dazu gibt. Zellen kommunizieren untereinander über eine Art Internet auf der Basis von bestimmten Molekülen, die unter anderem die Zelle zur Teilung ermutigen oder davon abraten. Tumorzellen ignorieren diese Nachrichten weitestgehend und pflanzen sich einfach immer weiter fort.
    Auch ganz ohne Internet hören Zellen irgendwann mit der Fortpflanzung auf, bei Menschen etwa so nach 60 bis 70 Teilungen, wovon die Forschung erst seit 50 Jahren weiß. Vorher nahm man allgemein an, Zellen seien unsterblich. Aber woher wissen die Zellen, wann sie mit dem Teilen aufhören sollen? Falls diese Frage je im Pub-Quiz vorkommt, was nicht sehr wahrscheinlich ist, dann lautet die Antwort: «Verkürzung der Telomere.» Der genetische Code ist in langen Molekülsträngen gespeichert, die Chromosomen heißen und von denen es in jeder Zelle eine größere Anzahl gibt, beim Menschen sind es 46. Bei jeder Zellteilung gehen die Enden der Chromosomen, die man Telomere nennt, kaputt. Irgendwann ist das Chromosom unbrauchbar, und die Zelle gibt auf.
    Manche Zellen können ihre Chromosomen reparieren, und zwar, indem sie einfach neue Teile an den genetischen Code anbauen. Telomerase heißt das Enzym, das diesen Prozess bewerkstelligt. Telomerase verlängert das Leben von Zellen erheblich, erhöht aber auch das Risiko, dass Zellen sich unkontrolliert vermehren. Tumorzellen finden Telomerase jedenfalls super und sind daher praktisch unsterblich, jedenfalls bis der Onkologe kommt und sie rausschneidet. Beim Menschen findet diese Art der Chromosomreparatur eigentlich nur in Ei- und Samenzellen statt. Mäuse hingegen betreiben das auch in normalen Körperzellen. Vor kurzem fand eine amerikanische Forschergruppe heraus, dass das Auftreten von Telomerase sich mit der Körpergröße von Tieren verändert. Vereinfacht gesagt: Bei kleinen Tieren werden die Chromosomen repariert, bei

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