Das neue Philosophenportal
bewegt: Wenn etwas existiert, so kann es nicht sein, dass es gleichzeitig nicht existiert, und wenn etwas eckig
ist, kann es nicht gleichzeitig rund sein. Wenn wir uns Gott nähern wollen, müssen wir diese Gegensätze allerdings überschreiten.
Gott ist die Einheit im Sinne einer »Koinzidenz«, einer Vereinigung oder eines Zusammenfalls von Gegensätzen auf einer höheren
Ebene. Das Wissen um diese Einheit ist aber verbunden mit dem Verzicht auf »Wissen« im üblichen Sinn: Es ist ein Wissen des
Nichtwissens.
Genau um dieses Verhältnis von Wissen und Nichtwissen und um die Möglichkeit der rationalen Erkenntnis, sich dem Einheitsgedanken
anzunähern, ging es in der Schrift, die nun Gestalt annahm. Man kann vermuten, dass Nikolaus sich bereits auf dem Schiff erste
Notizen gemacht hat. Doch es dauerte noch knapp zwei Jahre, bis, wie er später in seinem Buch schrieb, die »großartige Lehre
des Nichtwissens« ausformuliert war.
Das Tagesgeschäft im Dienst der Kurie nahm den größten Teil seiner Zeit in Anspruch. Nachdem Ost- und Westkirche auf dem Unionskonzil
in Florenz 1439 ein Einigungsdokument unterzeichnet hatten, wurde Nikolaus von der Kurie wieder nach Deutschland geschickt,
um die Landesfürsten auf die päpstliche Seite zu ziehen. Bezeugt sind u. a. Aufenthalte in Mainz, Frankfurt, Lahnstein undKoblenz. Erst zu Beginn des neuen Jahres 1440 kam er dazu, sich für einige Wochen in seinen Heimatort Kues zurückzuziehen,
wo er in einer konzentrierten Anstrengung das Manuskript seines Buches am 12. Februar vollendete. Gewidmet ist es seinem wichtigsten Freund, Mentor und Dialogpartner Guiliano Cesarini, »dem gottgeliebten
hochwürdigsten Vater und Herrn Julian, dem erlauchten Kardinal des Heiligen Apostolischen Stuhles, seinem verehrten Lehrer«.
Der Titel
De docta ignorantia
signalisiert: Es geht in dem Buch um eine besondere Art der »ignorantia«, der Unwissenheit. Es ist die Unwissenheit über Gott
als der Einheit aller Gegensätze in der Welt. Indem wir aber den Grund dieser Unwissenheit kennen lernen und uns über die
Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit klar geworden sind, wird sie zu einer bewussten und »belehrten« Unwissenheit, einer Unwissenheit,
die mit einem neuen Wissen verbunden ist.
Die belehrte Unwissenheit
besteht aus drei Bänden: Der erste und meistgelesene behandelt Gott als die Einheit, »in der die Gegensätze zusammenfallen«.
Der zweite Band widmet sich dem Universum und der dritte der Rolle Jesus Christus als dem Bindeglied zwischen Gott, Welt und
Mensch. Grob gesagt: Der erste Band hat einen metaphysischen, der zweite einen kosmologischen und der dritte einen theologischen
Schwerpunkt.
Wenn das Reden und rationale Argumentieren über die höchste Einheit an Grenzen stößt, so muss man auf bildliche oder symbolische
Ausdrucksweisen zurückgreifen. Nikolaus bedient sich zu diesem Zweck der ihm vertrauten Sprache der Mathematik. Anknüpfend
an einen Gedanken, der bis auf die frühgriechische Philosophie der Pythagoreer zurückgeht, nimmt er an, dass zwischen der
für uns zugänglichen Welt und der uns verborgenen Welt Gottes eine Verbindung besteht, die sich in Form mathematischer Relationen
verdeutlichen lässt. Wie viele seiner Zeitgenossen in der Renaissance ist Nikolaus von den Erkenntnisleistungen der Mathematik
fasziniert und deshalb davon überzeugt, dass »wegen ihrer unverrückbaren Sicherheit« mathematische Symbole sich dazu eignen,
das Sichtbare mit dem Unsichtbaren und das Diesseitige mit dem Transzendenten zu verknüpfen.
Bereits in der Art, wie Nikolaus sein Thema formuliert, sind dieAnleihen bei der Mathematik deutlich. Er bedient sich der Sprache der Quantifizierung, der Sprache der Größen und Messverhältnisse.
Sowohl bei Gott als auch bei dem Universum und auch bei Jesus Christus handelt es sich um eine Form des »Maximums«, des jeweils
»Größten«. Gott ist ein Maximum gegenüber allem anderen, was existiert; das Universum ist ein Maximum gegenüber allen einzelnen
Dingen in der Welt; und auch Jesus Christus ist als Gott und zugleich Mensch eine besondere Art des Maximums. Die Fragen,
die zu klären sind, lauten also: Welche besondere Art des Maximums ist Gott, welches Maximum ist die Welt und welches Jesus
Christus?
Gott ist, so Nikolaus, das »schlechthin und absolut« Größte, das alle Proportionen übersteigt. Der Versuch, ihn als extreme
Größe sowohl am oberen als auch am unteren
Weitere Kostenlose Bücher