Das neue Philosophenportal
ebenso vorläufig heraus wie die vorhergehende und muss auf der nächsthöheren Stufe überwunden werden. Hegel will uns in seiner
Analyse vorführen, dass man nicht wie Kant vor scheinbar unlösbaren Widersprüchen kapitulieren darf, sondern im Gegenteil
die Wirklichkeit und das Denken, das sie erfasst, als einen ständigen Prozess der Überwindung immer neuer Widersprüche begreifen
muss.
Die Stationen dieses Weges haben Generationen von Experten einiges Kopfzerbrechen bereitet. So gelangt Hegel vom Verstand
zum Selbstbewusstsein und damit zu einer Stufe, die in seinem Buch eine besondere Rolle spielt. Mit »Selbstbewusstsein« meint
er nicht das Selbstwertgefühl im heutigen umgangssprachlichen Sinn, sondernjenes Bewusstsein, das das Bewusstsein von sich selbst hat. Anders ausgedrückt: Das Selbstbewusstsein ist das Stadium, in
dem das Bewusstsein sich selbst durchschaut, in dem ihm die Bezüge und Vorgänge klar werden, die mit dem Erkenntnisprozess
verbunden sind. Deshalb spricht Hegel auch davon, mit dem Selbstbewusstsein »im einheimischen Reich der Wahrheit angekommen
zu sein«.
Das Selbstbewusstsein begreift sich in all diesen Bezügen als Einheit, eine Einheit, die gleichwohl wieder zerfällt. Der Gegensatz,
der sich nun herausbildet, gehört zu den meistdiskutierten in Hegels Werk. Hegel bedient sich nämlich einer sehr metaphorischen
Sprache und bezeichnet ihn als Gegensatz zwischen »Herr« und »Knecht«.
Die Interpreten rätseln: Handelt es sich um einen Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Subjekten oder nur um einen Gegensatz
zwischen zwei Formen des Selbstbewusstseins – zwischen einem Ich-Bewusstsein und einem auf die Gegenstände ausgerichteten
Bewusstsein –, also um einen Gegensatz, der sich innerhalb des Bewusstseins abspielt? Die meisten haben sich der letzteren Deutung angeschlossen.
Zwischen diesen beiden Formen des Selbstbewusstseins findet nach Hegel ein Kampf um Leben und Tod statt, in dem es um Anerkennung
und Selbstbehauptung geht. Zu einer Auflösung dieser Kampfsituation und damit des Gegensatzes kommt es, indem das Verhältnis
ins Wanken gerät, indem sich die Rollen vertauschen. Der Herr ist in Wahrheit der Abhängige, denn er erfährt die Wirklichkeit
nur über die Vermittlung seines Knechts. Der wiederum erlangt durch seine Arbeit ein neues Selbstbewusstsein und überwindet
seine Todesfurcht.
Inspiriert wurde Hegel zu dieser Passage durch einen berühmten experimentellen Aufklärungsroman des 18. Jahrhunderts, Diderots
Jacques der Fatalist und sein Meister
. Der Diener Jacques sieht, dass sein Herr zwar den Titel »Herr« trägt, er selbst aber die »Sache« hat, d. h. die eigentlich tätige Kraft ist. So folgert er: »Jacques regiert seinen Herrn.« Hegel drückt dies so aus: Die Knechtschaft
werde »in ihrer Vollbringung zum Gegenteil dessen werden, was sie unmittelbarist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewusstsein in sich gehen und zur wahren Selbstständigkeit sich umkehren«.
Viele, besonders Marxisten, halten den Abschnitt über Herr und Knecht für den interessantesten Teil der
Phänomenologie
. Denn zeigt sich hier nicht die Vorläufigkeit der Klassengesellschaft, die notwendig in einen Herrschaftswechsel münden muss?
Marx selbst hat aus dieser Passage seinen eigenen Begriff von »Arbeit« gewonnen, nämlich als formende Kraft der menschlichen
Selbstverwirklichung.
Es scheint jedoch, als habe Hegel trotz seiner Metaphorik hier eher an Denk- und Bewusstseinsprozesse gedacht. In Anspielung
auf Fichtes Begriff des »Ich«, das seine Freiheit im Setzen der Wirklichkeit behauptet, bezeichnet er die neue Stufe des Selbstbewusstseins
als »freies Denken«, das seine inneren Widersprüche überwunden hat.
An dieser Scharnierstelle des Buches wechselt Hegel von einer erkenntnistheoretischen auf eine kulturphilosophische Ebene.
Mit der »Freiheit des Selbstbewusstseins« betritt er den Boden der Geistesgeschichte, der großen Entwürfe menschlichen Selbstverständnisses.
Die Unterscheidung zwischen einem individuellen und einem kollektiven Begreifen der Welt überspringt Hegel souverän. Er sieht
auf allen Ebenen – ob in der Erkenntnisbemühung des Subjekts oder in einem »Zeitgeist« – denselben Geist am Werk, der unbeirrt
in Richtung absolutes Wissen marschiert.
Zunächst begnügt sich das freie Denken mit innerer Autonomie, die – wie in der antiken Philosophie der Stoa – der Welt gegenüber
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