Das neue Philosophenportal
Kunst zwischen schönem Schein und rauschhaftem Erleben zu beschreiben.
Den Ruf des Pessimisten erwarb sich Spengler vor allem durch die Analyse seines eigenen Zeitalters, der Zivilisationsphase
der westlichen Kultur, deren Beginn er mit dem Jahr 1800 ansetzt. Die Phase der Zivilisation ist für ihn dadurch gekennzeichnet,
dass die theoretische und ästhetische Gestaltungskraft einer Kultur zugunsten einer stärker praktischen Orientierung an Fragen
der Organisation, der Politik, Wirtschaft und Technik zurückgeht. Es entstehen Weltstädte und politisch große imperiale Einheiten
wie das Römische Reich inder Antike. Die Identität der Nationen wird durch einen Kosmopolitismus und die Entstehung pluralistischer Massengesellschaften
aufgelöst. Die großen Leistungen einer Kultur in der Phase der Zivilisation bestehen in politischen Eroberungen sowie in technischen
und wirtschaftlichen Errungenschaften. Sie gipfeln in der Herrschaft des Geldes als dem Symbol eines rechnenden, rein quantitativen
Denkens. In der Zivilisation trocknet die innere Vitalität einer Kultur, ihr »Leben«, aus. An ihre Stelle treten organisatorische
und logistische Fähigkeiten.
Es ist die Dominanz des englischen Geistes, die Spengler in besonderer Weise mit der Phase der westlichen Zivilisation in
Verbindung bringt. England als Ursprungsland der modernen Nationalökonomie und Vorreiternation des Kapitalismus, als Heimat
des philosophischen Utilitarismus und als bedeutendste imperiale Macht Europas im 19. Jahrhundert ist für ihn der Protagonist auf der Bühne, auf der der Untergang des Abendlandes gespielt wird. Hätte Spengler
die Entwicklungen des späten 20. Jahrhunderts, die Vereinigung der westlichen Staatenwelt unter dem Dach einer amerikanischen Supermacht, die Globalisierung
und Entstehung multikultureller Gesellschaften erlebt, hätte er sich in seinen Voraussagen sicher bestätigt gesehen.
Doch der Leser Spenglers erwartet von einer »Philosophie der Zukunft« natürlich auch eine Auskunft darüber, wie es denn nach
dem »Untergang des Abendlandes« weitergeht. Ist eine neue Hochkultur in Sicht, die die westliche ablösen wird? Spenglers Ausführungen
hierzu sind eher spärlich, doch immerhin nennt er den entscheidenden Namen: Es ist Russland, dessen Gesellschaft sich im 19. Jahrhundert in einer vergleichbaren Phase befindet wie das Frankenreich, das in die Vorzeit der abendländischen Kultur fällt.
Die seit Peter dem Großen dort eingedrungenen westlichen Einflüsse verfälschen für Spengler den wahren Charakter des Landes,
den er am besten im religiösen Weltgefühl der Romane Dostojewskijs verkörpert sieht: »Dem Christentum Dostojewskijs«, so Spengler,
»gehört das nächste Jahrtausend.«
Das Rad der Geschichte dreht sich weiter, und niemand kann sichdem entziehen. Spengler ist nicht nur Pessimist, sondern auch Fatalist: Dem Menschen bleibt die Wahl, sich in den Dienst der
Geschichte zu stellen oder zu scheitern. Im Zeitalter der Zivilisation können keine großen Werke der Musik mehr entstehen,
wohl aber Ölpipelines und Computer. »Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen«, schreibt Spengler am Ende
seines Buches, »aber die, das Notwendige zu tun oder nichts.«
Als der erste Band seines Mammutwerkes 1918 erschien, leitete ihn Spengler mit der Bemerkung ein, er enthalte »die unwiderlegliche
Formulierung eines Gedankens, den man nicht mehr bestreiten werde, sobald er einmal ausgesprochen sei«. Nicht alle Leser reagierten
jedoch in Spenglers Sinne, sodass er in einer späteren Auflage hinzufügte: »... sobald er verstanden sei.«
Ob das konservative deutsche Bürgertum, das Spengler nach dem Ersten Weltkrieg zum Hausphilosophen erkor, ihn wirklich verstand,
mag offen bleiben. Spenglers Engagement für die antidemokratische Rechte trug darüber hinaus nicht unerheblich dazu bei, dass
seine Geschichts- und Kulturphilosophie mit demokratiefeindlichen politischen Gesinnungen in Verbindung gebracht wurde.
Doch sollte in diesem Fall niemand der Verführung unterliegen, von der Begrenztheit der Person auf die Begrenztheit des Werkes
zu schließen. Mit seinem Panoramablick öffnete Spengler dem europäischen Selbstverständnis vielmehr eine globale Perspektive,
die sich erst am Ende des 20. Jahrhunderts in der Philosophie – so in der Diskussion um die Universalität kultureller und moralischer Normen – durchsetzen
Weitere Kostenlose Bücher