Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
Als nett konnte man ihn nie bezeichnen…
» Wenn ich gewusst hätte, dass es ein Witz war, warum hätte ich dann weggelaufen sollen?«, sagte Benedict. » Welchen Grund hätte ich seiner Meinung nach denn haben sollen?«
Seine Mutter zögerte. » Er dachte, es wäre ein Spiel. Eine Jagd: Schau mal, ob du mich kriegst. Er dachte, du hättest ihn zum Spiel herausgefordert.«
Benedict schüttelte den Kopf, teils aus Unglauben, teils aus der Hoffnung, mithilfe dieser Bewegung seine wild durcheinander wirbelnden Gedanken wie Scrabble-Steine wieder in eine sinnvolle Anordnung bringen zu können.
» Mutter, das ist absurd. Einfach– wahnsinnig.«
» Er dachte, du hättest endlich deine Unabhängigkeit entdeckt.« Seine Mutter klang jetzt müde. Oder traurig– da war Benedict sich unschlüssig. » Er dachte, du hättest, nachdem du dein ganzes Leben ein so stiller, artiger Junge gewesen warst, endlich beschlossen, ein bisschen abenteuerlustig zu werden. Er war stolz, dass du so gut in der Schule warst, aber auch besorgt, du würdest dein Leben als Mitläufer verschwenden– als einer, der sich treiben lässt und immer nur nach den Regeln anderer spielt. Er hat befürchtet, du würdest niemals ausbrechen und entdecken, wer du bist oder was du kannst. Er sagte, er hätte, als du noch klein warst, oft versucht, dich aus der Reserve zu locken. Daher fand er es großartig, als du den Ausbruch endlich gewagt hast, und, wie er es ausdrückte, etwas Unternehmungsgeist zeigtest.«
» Wie konnte er das nur glauben ?« Benedict hörte seine eigene Stimme fern und stockend. » Das ist doch absurd …«
» Dein Vater hat nur gesehen, was er sehen wollte«, erwiderte Benedicts Mutter. » Allerdings wärst du erstaunt, wie oft sich das, was er gesehen hat, bewahrheitet hat.«
34
Mo hatte ein schlechtes Gewissen Connie gegenüber, weil sie sie nicht angerufen und sich erkundigt hatte, wie es zwischen ihr und Phil stand. Mittlerweile war fast eine Woche vergangen. Mo wusste, sie konnte gute Gründe vorweisen– schließlich hatte sie sich selbst mit Eheproblemen herumgeschlagen, oder etwa nicht? Doch seit ihrem Gespräch mit Patrick nagte die Erkenntnis an ihr, dass sie als Freundin, wie sie es ausdrückte, ein bisschen scheiße war.
Vielleicht, dachte sie, weil ich mir einen ganz bestimmten Typ als Freundin aussuche? Frauen wie Darrell und Connie, die meine Bulldozer-Art ertragen, weil sie freundlich und großzügig genug sind zu unterstellen, dass ich es gut meine. Während mir andere Frauen wie die in meiner Krabbelgruppe aus dem Weg gehen, weil sie mich für eine unhöfliche und übergriffige Kuh halten. Was ja stimmt– seit ich hierhergezogen bin, war ich das und noch viel Schlimmeres, dachte Mo, weil ich wütend und verbittert war und mich bedroht fühlte. In Charlotte war ich zweifellos auch schon eine unhöfliche, übergriffige Kuh, aber da war ich eine glückliche Kuh und hab deshalb Leute nicht so oft vor den Kopf gestoßen. Ich sollte nicht mehr in die Krabbelgruppe gehen, dachte sie. Benedict kann da allein hin, dann müssen sich die Frauen nicht mehr mit einem schäumenden, beschissenen Ekelpaket voller Groll und Feindseligkeit herumschlagen, das sich Mo Lawrence schimpft.
Mo nahm eine weiße, quadratische Karte vom Küchentisch. Es war die Eintrittskarte zu Gullivers Konzert, die Aishe gestern Nachmittag persönlich vorbeigebracht hatte. Mo war eigentlich entschlossen, nicht hinzugehen– weder Gulliver noch Benedict konnte sich um die Kinder kümmern, und anfangs war sie zu wütend auf Chad gewesen, um ihn darum zu bitten. Aber Aishe hatte ihr die Karte zwar in ihrer üblichen beiläufigen, Ist-mir-doch-egal-Manier gegeben, die Bedürftigkeit, die sie ausstrahlte, war Mo jedoch trotz ihrer eigenen Probleme nicht entgangen. Ihr liegt wirklich was daran, dass ich komme, dachte Mo. Den Grund wird sie mir aber nie verraten; da kann ich nur raten. Aishe hält sich derartig bedeckt, dass sie eigentlich ersticken müsste.
Mo fragte sich, ob Aishe sie als Freundin betrachtete. Ich bin mir nicht sicher, ob Aishe überhaupt weiß, wie man sich als Freundin verhält, dachte sie. Ich mag zwar unfreundlich und intolerant sein, aber Aishe hält sich andere mit Schutzanlagen vom Leib, wie man sie sonst nur bei Fertigungsanlagen für biologische Waffen findet. Ihre Wirkung ist ungefähr die eines dieser Kraftfelder, die von einem menschlichen Körper nur einen glühenden Abdruck und von seiner Wirbelsäule einen rauchenden
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