Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
ihrem Laufstall. Harry saß vor Thomas, die Lokomotive. Benedict hatte eine internationale Telefonkarte in der Tasche, die schon ganz warm war vom unentwegten Herausholen und wieder Wegstecken.
Es war zwei Minuten vor elf. Benedict nahm die Telefonkarte und wählte die Nummer.
Vom lauten Pochen seines Herzens klang der Rufton in seinen Ohren verschwommen und verzerrt. Dann klickte es und seine Mutter meldete sich mit Hallo.
Als er schwieg, wiederholte sie es, diesmal mit misstrauischer Ungeduld. Benedict fand seine Stimme wieder.
» Mutter, i–ich bin’s.«
Diesmal war es am anderen Ende der Leitung still.
Benedict umklammerte den Hörer fester. Bestürzt merkte er, dass die Tränen, die ihn Anfang der Woche schon zu demütigen gedroht hatten, wieder in ihm aufstiegen. Nicht nur Trauer steckte dahinter, sondern auch ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit, von Vergeblichkeit, Bedauern und– das war das Schlimmste– ein tiefsitzendes Gefühl, versagt zu haben. Die Kluft, die durch das Schweigen seiner Mutter entstand, erschien gewaltig– unüberwindbar–, und zum ersten Mal verspürte Benedict den vollen, heftigen Schmerz, was die vergangenen neun Jahre ihn gekostet hatten. Er hatte überlebt. War körperlich unversehrt. Aber im Augenblick hatte er nicht annähernd das Gefühl, dass es das wert gewesen war.
» Es tut mir leid«, brachte er schließlich hervor. » Ich weiß nicht… kann nicht…«
» Weißt du, er hat alles verloren. Durch die Jagd auf dich.«
Benedict fand, dass die Stimme seiner Mutter kühl, aber nicht verbittert klang. Doch vielleicht klammere ich mich auch an einen Strohhalm, dachte er, weil ich mich verzweifelt nach einer noch so winzigen Spur Freundlichkeit sehne.
» Er hat seine Geschäfte vernachlässigt«, fuhr seine Mutter fort. » Hat sie von anderen ausführen lassen. Das war ein Fehler. Er hat alles verloren.«
» Im Internet stand nichts darüber, dass er sein Vermögen verloren hat«, sagte Benedict.
Überraschenderweise hörte er seine Mutter lachen. » Was illegal erworben wurde, kann auf die gleiche Weise wieder verloren werden«, sagte sie. » Vor allem, wenn man nicht aufpasst.«
» Geht es dir gut?«, fragte Benedict. » Finanziell, meine ich.« Nicht, dass ich dir helfen könnte, dachte er.
» Ich komme zurecht«, antwortete seine Mutter. » Ich habe nie etwas für sicher gehalten, nicht mal auf dem Höhepunkt seines Reichtums. Ich wusste immer um das Risiko, dass alles auch wieder zu Bruch gehen kann. In gewisser Weise war ich froh, dass er krank war, als es geschah. So konnte ich das Schlimmste vor ihm verbergen.« Dann fragte sie: » Warum hast du das getan, Benedict? Warum bist du weggelaufen?«
Die Antwort, die Benedict seit seinem zehnten Lebensjahr im Kopf hatte und für wahr hielt, flackerte ein wenig, wie ein altes Neonlicht. Aber es gab Beweise, dachte er, Begebenheiten, die ich mir nicht eingebildet habe, egal, was Aishe denkt. Außerdem, welchen anderen Grund sollte es sonst geben?
» Ich dachte, er wolle mir etwas antun.«
Seine Mutter schwieg einen Moment. » Ich habe versucht, ihm das verständlich zu machen«, sagte sie. » Aber er wollte mir nicht glauben.«
» Was sagst du da?«, fragte Benedict. » Dass er mir nichts antun wollte? Mutter, er hat Zettel mit Bildern von Waffen hinterlassen!«
» Er sagte, das sei ein Witz zwischen euch.«
» Ein Witz ?« Benedict wusste, dass er die Stimme nicht erheben sollte. Aber die Vorstellung war dermaßen absurd, dass er nicht anders konnte. » Wie hätte man so was jemals auch nur ansatzweise lustig finden sollen?«
» Er sagte, er hätte dir einmal eine Spielzeugpistole geschenkt. Eine, aus der ein Fähnchen herausschießt, auf dem Peng steht. Er war sich sicher, du würdest die Verbindung sehen.« Ungeduldig schnalzte sie mit der Zunge. » Ich habe versucht, es ihm begreiflich zu machen.« Benedict erinnerte sich an die Pistole auf seinem Bücherregal– und daran, was er damit gemacht hatte: Er hatte sie vorsichtig genommen und in die Garage gebracht, wo er sie dick in mehrere Lagen Zeitungspapier eingeschlagen, mit Klebeband umwickelt und dann tief nach unten in die Mülltonne geschoben hatte.
Diese Pistole kam mir sehr echt vor, dachte er. Aber, wie Aishe schon sagte, ich war damals erst zehn. Wenn es wirklich eine Spielzeugpistole war, was wollte er mir dann damit sagen? Wollte er mich an mein Versagen mit der echten Pistole erinnern? Das wäre vermutlich typisch für meinen Vater gewesen.
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