Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
staunte seine Mutter.
» Ich war damals sechs oder sieben, also kein Baby mehr.«
» Ja. Du hast also…«
» Und? Worüber habt ihr euch gestritten?«
» Sie waren der Meinung, es wäre Zeit, nach Hause zu kommen. Aber ich nicht.«
» Sie? Ich dachte, nur er wäre gekommen.«
Aishe warf ihrem Sohn ein kurzes, schiefes Lächeln zu. » Wir sind alle Abgesandte der Familie.«
Gulliver glotzte sie an. » Der Familie? Du meinst, wie die Mafia ?«
Aishe lachte. » Nein! Obwohl ich mir manchmal wirklich vorkomme wie Al Pacino in Der Pate. Immer wenn du denkst, du wärst raus, zerrensie dich wieder rein. Anse– dein Onkel– war nicht der Erste, der mich zurückholen wollte.« Ihr Lächeln schwand. » Aber vermutlich kann ich dankbar sein, dass er der Letzte war…«
» Und wer sind sie? Wer ist ›Die Familie‹?« Gulliver tippte auf das Foto. » Die hier?«
» Die hier sind ein klitzekleiner Teil«, erklärte seine Mutter. » Es gibt Hunderte von Hernes. Ganz zu schweigen von den Angeheirateten: den Kings, den Bowers, den Bucklands– die Liste ist endlos.«
» Wie ein schottischer Clan«, sagte Gulliver nachdenklich. » Ein Zigeunerclan.«
» Stimmt wohl…«
» Gibt es ein Oberhaupt? Einen Anführer?«
Überrascht sah Aishe ihren Sohn an. » Wieso willst du das wissen?«
Gulliver wirkte vorsichtig, aber entschlossen. » Es ist schließlich auch meine Familie.«
Zögernd nickte sie. » Stimmt. Und ja, es gibt ein Oberhaupt. Deinen Onkel Jenico. Eigentlich ist er ein Großonkel.«
» Hast du ein Foto von ihm?«
Aishe runzelte die Stirn und dachte nach. » Ich bin mir nicht sicher…« Sie sprang vom Sofa. » Ich seh mal nach.« Sie ging nach oben und zog extra laut ein paar Schubladen auf und zu, um den Umstand zu vertuschen, dass sie trotz ihrer offenkundigen Unschlüssigkeit genau wusste, wo sie suchen musste. Schließlich kam sie mit einer flachen Pralinenschachtel zurück.
» Ich weiß gar nicht, wieso ich die aufbewahrt habe.« Mit einem schweren Seufzer ließ sich Aishe aufs Sofa fallen. » Wahrscheinlich für dich. Hier…« Sie gab ihrem Sohn die Schachtel. » Bedien dich.«
Das erste Foto, das Gulliver herausholte, zeigte einen jungen, etwa achtzehnjährigen Mann mit einer Motorradjacke, die der von Benedict ähnelte. Doch während die Jacke bei Benedict nicht mehr war als ein modisches Statement, konnte man deutlich sehen, dass die Jacke bei diesem jungen Mann ein Statement ganz anderer Art war. Er hatte die Arme über der breiten Brust verschränkt. Seine dunklen Haare waren ultrakurz und seine dunklen Augen und die scharfen Züge seines Gesichts nicht gerade hübsch, doch sein Selbstvertrauen hatte magnetische Wirkung. Selbst auf dem leicht verschwommenen Foto verströmte dieser Jüngling Charisma– und etwas Gefährliches. Bei jungen Männern wie ihm wechselte man unwillkürlich die Straßenseite.
» Wow!«, sagte Gulliver. » Wer ist das denn?«
» Das ist mein Cousin ersten Grades– und dein Onkel x-ten Grades– Patrick«, erklärte seine Mutter. » Tolles Foto, nicht wahr? Damals war er in seiner sogenannten Wilden Phase.«
» Ach, es war nur eine Phase?« Aishe bemerkte, dass Gulliver enttäuscht wirkte.
» O ja. Er überwand sie. Dass er mit neunzehn im Gefängnis war, hat sicher dazu beigetragen. Soweit ich weiß, hat ihm das eine Heidenangst eingejagt. Anschließend kümmerten sich Onkel Jenico und die anderen Männer um seinen Fall, was ihm noch mehr Angst eingejagt hat. Jetzt ist er ein supererfolgreicher Immobilienmakler in London. Mit Lizenz, wohl verstanden«, fügte Aishe hinzu und hob vielsagend eine Augenbraue. » Bevor du falsche Schlüsse ziehst.«
» Er ist also ein Herne?«
» Nein, Patrick ist ein King. Seine Mutter war eine Herne und deine Großtante. Versuch erst gar nicht, die Verwandschaftsbeziehungen aufzudröseln– du würdest verrückt werden. Aber Patricks Vater war kein Roma. Er war ein Reisender.«
Gulliver grinste. » Wie in Ghostbusters ?« Und sagte mit verstellter Stimme, die nach einer fünftausend Jahre alten Kettenraucherin klang: » Gozer, der Gozerianer, der Vernichter, der Reisende ist gekommen!«
Aishe warf ihm einen Blick zu. » Nicht ganz. Reisende sind irische Zigeuner. Nicht wie wir. Echte Romas sehen ein bisschen auf sie herab und nennen sie Pikeys, Zigeuner.«
» Bis wir sie heiraten«, erwiderte Gulliver und sah sich noch ein paar Fotos an. » Dann gehören sie zur Familie.«
Seine Mutter lächelte ihn an. » Ich glaube,
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