Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
allmählich kommst du auf den Trichter.«
Gulliver nahm ein weiteres Foto heraus. Es zeigte eine Frau Mitte dreißig. Sie saß auf einem Gartenstuhl vor einem großen Busch mit tiefroten, hängenden Blüten. Das Foto schien zur selben Zeit aufgenommen worden zu sein wie das von den Herne-Kindern. Es hatte den gleichen weißen Rand, die gleichen verblichenen Farben, allerdings war es irgendwie schief und der Fokus leicht verschwommen, als hätte es ein Amateur oder ein Kind gemacht. Die Frau schaute nicht zur Kamera, sondern sah mit strahlendem, liebevollem Lächeln zu jemandem auf, der neben ihr stand. Sie war schmal, dunkelhaarig und hübsch. Aishe sah, dass Gullivers Blick vom Foto zu ihrem Gesicht wanderte.
» Das ist deine Mom«, folgerte er.
Aishe warf nur einen kurzen Blick auf das Foto. » Ja.«
Da bemerkte Gulliver, dass das Foto nur auf drei Seiten einen weißen Rand hatte. » Jemand hat es auseinandergeschnitten«, sagte er. » Die Person, die sie anschaut, ist abgeschnitten worden.«
» Wahrscheinlich hat es einer von uns für ein Schulprojekt gebraucht«, erwiderte seine Mutter. » Jenepher, höchstwahrscheinlich. Sie war immer ziemlich kreativ.«
» Wer wurde da weggeschnitten?«
Aishe zuckte die Achseln. » Keine Ahnung.«
» Wie es aussieht, könnte es jeder von deinen Millionen Verwandten gewesen sein.« Gulliver sah die wenigen verbliebenen Fotos durch. » Du scheinst keine Fotos von deinem Dad zu haben.«
Aishe zögerte. » Er hat sich nicht gern fotografieren lassen.«
Ganz unten in der Schachtel, unter allen Fotos, entdeckte Gulliver ein unordentlich gefaltetes Blatt Papier. Als er es auseinanderfaltete, erwies es sich als der Laserausdruck eines Gruppenfotos, das offenbar bei einer Hochzeit entstanden war. Es waren keine Frauen auf dem Bild. Gulliver hatte den starken Eindruck, dass diese Männer ausgewählt worden waren, weil sie eine wichtige Rolle in der Familie spielten. Das waren die Oberhäupter, die großen Männer. In mindestens zwei Fällen war dies auch wörtlich zu nehmen.
» Da ist er wieder, stimmt’s?« Gulliver zeigte auf einen großen, breitschultrigen Mann im Hintergrund. » Nur älter. Das ist Patrick.«
» Ja«, bestätigte seine Mutter. » Das Foto ist von letztem Jahr. Da war Patrick ungefähr vierundvierzig, fünfundvierzig.«
Nach kurzem Zögern zeigte sie auf einen zweiten Mann, der ebenso groß und breit gebaut war wie Patrick, aber erheblich älter. Er hatte das gleiche dunkelrote Haar wie Gulliver. » Und das ist dein Onkel Jenico. Das Foto wurde auf der Hochzeit seiner Tochter gemacht…« Aishe sah zu, wie Gulliver das Bild anstarrte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Obwohl seine Miene nur leichte Neugier zeigte, fand Aishe es entnervend. Es ist nun mal seine Familie, sagte sie zu sich. Ich kann’s nicht leugnen, und ich wollte sie auch nie vor ihm verbergen. Aber was jetzt? Wird er sich mit ein paar Fotos zufriedengeben? Oder nicht?
» Das ist dein Bruder«, sagte Gulliver. » Der, der uns besucht hat. Mit dem du gestritten hast.«
Aishe betrachtete Anselos Gesicht. Er lächelte nicht, aber wenn man ihn lächelnd fotografieren wollte, musste man ihn schon unvorbereitet erwischen. In dieser Hinsicht, dachte Aishe, waren Anselo und sein Vater– unser Vater– sich sehr ähnlich. In anderer Hinsicht wohl auch. Beide waren ernst, nachdenklich, bedächtig– ganz im Gegensatz zu meinen stumpfsinnigen anderen Brüdern, die nicht einen klaren Gedanken fassen können, selbst wenn er in einer Blase über ihrem Kopf schwebte! Ironie des Schicksals allerdings, dachte Aishe, dass meine älteren Brüder Dads Aussehen geerbt haben. Anselo, Jenepher und ich kommen nach unserer Mutter.
Sie betrachtete den Laserausdruck. Obwohl Anselo und Patrick sich in ihrer Jugend keineswegs geähnelt hatten– der eine war schmal, der andere stämmig–, glichen sie einander jetzt. Anselo sah zwar besser aus, war wirklich attraktiv, hatte aber trotz seiner muskulösen Statur nicht Patricks physische Präsenz. Hauptsächlich wohl deshalb, weil Anselo das Selbstvertrauen fehlte, das Patrick so unwiderstehlich machte.
Aishe musste an die Frau denken, die angerufen hatte. Genauer gesagt, an deren beste Freundin, die offenbar Anselos Freundin war. War er glücklich mit ihr? Wollten sie heiraten? Möglicherweise hatten sie ja schon Kinder.
» Ist das per E-Mail gekommen?« Gulliver wedelte mit dem Ausdruck.
Jetzt könnte ich lügen, dachte Aishe. Es noch ein bisschen
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