Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
sie sich. Ich wäre ja nicht mal in meinem Zimmer gewesen.
Jetzt hob sie lauschend den Kopf. Gulliver übte Bass. Zwar stöpselte er abends nicht den Verstärker ein, aber sie hörte trotzdem den dumpfen Schlag seiner Finger auf den Saiten. Er war ein Naturtalent; wenn er Songs auf seinem iPod hörte, konnte er sie nach wenigen Versuchen nachspielen– zwar nicht flüssig, aber ziemlich korrekt. Jetzt war sie zu weit weg, um den Song zu identifizieren, den er gerade übte.
Vor Benedicts Auftauchen hatte Gulliver nur die Bassläufe von Pink Floyd und Fleetwood Mac geübt. Musik, die Aishe gern hörte. Jetzt schien er ständig kurze, ultraschnelle Punksongs zu spielen, die sie unendlich nervten. Die Musik an sich war ja gar nicht so schlecht; die Verve und die Wut hatten ihr an Punk schon immer gefallen. Aber es stank ihr, dass Gulliver einfach die Musik aufgab, die er mochte, bloß weil ein bleichgesichtiger Schnösel meinte, er wüsste besser als sie, was cool ist.
Als wäre Benedict Hardy in seinem Leben jemals auf einem Punkkonzert gewesen, dachte Aishe voller Verachtung. Ich dagegen war in vorderster Front bei mehreren norwegischen Death-Metal-Konzerten, gewöhnlich umringt von volltrunkenen teutonischen Idioten mit langer Matte und schwarzem T-Shirt. Die sehr schnell begriffen, dass sie einen Ellbogen in die Eier bekamen, wenn sie mich ohne meine ausdrückliche Erlaubnis auch nur streiften. Obwohl das nicht immer die beste Taktik war, gestand Aishe sich ein. Wer weiß, was dieser riesige, stinksaure Finne wohl mit mir angestellt hätte, wenn ich nicht schnell genug in der Menge untergetaucht wäre. Jonas war immer verzweifelt gewesen, erinnerte sie sich. » Ich und die Jungs von der Band haben Manieren und ein gutes Herz«, hatte er gesagt, » aber einige unserer Fans sind ausgewachsene Psychopathen auf Meth. Wie wär’s, wenn du mal ein bisschen vorsichtiger wärst?«
Ja, wie wär das, Jonas, dachte Aishe. Was wäre wohl geschehen, wenn ich deinen Rat beherzigt hätte?
Dann bemerkte sie, dass die Musik oben verstummt war. Wahrscheinlich setzte sich Gulliver jetzt vor den Computer oder schnappte sich ein Buch. Jedenfalls würde sie ihn an diesem Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen. Da sie keinen Sinn darin sah, gutes Geld für einen Kabelanschluss auszugeben, diente der Fernseher nur zum Ansehen von DVD s. Normalerweise hatten Gulliver und sie samstags zusammen DVD s angeschaut, obwohl sie auch damals nie sicher wusste, ob er sich zu ihr gesellen würde.
Irgendwie ist es genau wie früher, dachte sie. Als ich ihn um sieben in die Klappe verfrachtete…
Überraschenderweise jedoch hörte sie Schritte auf der Treppe. In seiner üblichen Haltung schob Gulliver sich ins Zimmer: Daumen in die Vordertaschen seiner Jeans gehakt, Ellbogen so weit abgespreizt, dass die Schulterblätter wie die Flügelansätze eines frisch geschlüpften Vogels hervortraten. Sein Vater Jonas war ein großer, kräftiger Mann gewesen, und Aishe ging davon aus, dass Gulliver sich ähnlich entwickeln würde. Sie war nur froh, dass er ihm ansonsten kaum glich. Er erinnerte sie auch so schon genug an ihn.
Gulliver ging durch zur Küche, dann hörte Aishe, wie Wasser in die Spüle lief. Wahrscheinlich trank er direkt aus dem Hahn. Offensichtlich, denn als er ins Wohnzimmer zurückkam, wischte er sich mit dem Unterarm über den Mund. Er ließ sich auf den Sessel sinken. Aishe wartete, dass er etwas sagte. Sie merkte, dass sie in höchster Alarmbereitschaft war. Vermutlich war er nur nach unten gekommen, weil er etwas sagen– oder fragen– wollte. Und die Fragen, die Gulliver vielleicht zu stellen hatte, waren mit Sicherheit welche, die sie noch nicht beantworten wollte.
Nach einigen Minuten Schweigen erhob er sich jedoch wieder. Im Stillen seufzte Aishe erleichtert auf– bis ihr auffiel, wohin er ging. Zum Regal mit den Familienfotos.
Aishe spürte, wie eine kalte Hand ihre Eingeweide zusammenpresste. Sie hatte immer gewusst, dass es eines Tages so weit kommen würde, doch bis jetzt hatte er keinerlei Interesse gezeigt, sodass sie sich an die Hoffnung klammerte, ungeschoren davonzukommen. Doch jetzt war es so weit, und sie musste sich damit auseinandersetzen.
Gulliver nahm das Fotos mit den Herne-Kindern, kam zum Sofa und quetschte sich neben seine Mutter. Achtung, dachte Aishe. Jetzt geht’s los…
Gulliver zeigte auf den jungen Anselo. » Worüber habt ihr euch gestritten, als er uns besucht hat?«
» Das weißt du noch?«,
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