Das Niebelungenlied
die Kirche. Jeden Tag ging sie traurig dahin, wo ihr Liebster begraben war, und bat Gott, er möge sich seiner Seele annehmen. Um ihn wurde viel geweint. Uote versuchte oft, sie zu trösten, aber ihr Herz war so schwer, daß kein Trost verfangen konnte. Wie groß ihre Tugend war, wurde an ihrer unendlichen Sehnsucht nach Sîfrit offenbar. Bis ans Ende ihres Lebens klagte sie um ihn. Viereinhalb Jahre lebte sie da, ohne ein einziges Wort mit Gunther zu sprechen und ihren Feind Hagen zu sehen.
Endlich sagte Hagen von Tronege: »Wenn Ihr es einrichten könntet, daß Eure Schwester sich mit Euch aussöhnt, so käme das Gold der Nibelungen nach Burgund: Ihr könntet viel davon haben; wenn sie uns freundlicher gesinnt würde.« Gunther antwortete: »Wir wollen es versuchen. Meine Brüder haben Umgang mit ihr, die wollen wir bitten, daß sie eine Versöhnung in die Wege leiten, wenn sie dazu zu bewegen ist.« – »Ich glaube nicht«, sagte Hagen, »daß es jemals etwas wird.« Gunther schickte Ortwîn und den Markgrafen Gêre zu Kriemhilt, auch Gêrnôt und Gîselher wurden hinzugerufen. Sie redeten ihr freundlich zu. Gêrnôt sagte: »Ihr klagt zu lange um Sîfrits Tod, Königin. Der König will vor Gericht beweisen, daß er ihn nicht erschlagen hat.« Sie antwortete: »Dessen hat ihn niemand beschuldigt:Hagen hat ihn ermordet. Als er mich ausfragte, wo man ihn verwunden könnte, wie sollte ich da meinen, daß er ihn haßt? Sonst hätte ich mich wohl gehütet, Sîfrit so zu verraten, und müßte jetzt nicht weinen, ich unglückliche Frau. Ich will den Mördern nie verzeihen.« Gîselher bat sie nochmals. Als sie dem König hatte sagen lassen, sie wolle ihn empfangen, kam er mit seinen nächsten Verwandten zu ihr. Hagen wagte nicht, ihr unter die Augen zu kommen, er war sich seiner Schuld bewußt. Da Kriemhilt ihre erbitterte Haltung gegen Gunther aufgeben wollte, hätte er ihr den Versöhnungskuß gegeben; und wäre ihr nicht mit seiner Zustimmung das Leid zugefügt worden, hätte er ohne Bedenken zu ihr gehen können. Nie ist eine Versöhnung unter Verwandten mit so viel Tränen zustande gebracht worden. Ihr Verlust stand ihr wieder vor Augen. Sie begrub ihren Zorn gegen jedermann bis auf den einen; denn niemand hätte Sîfrit erschlagen, wenn Hagen es nicht getan hätte.
Sehr bald danach brachten sie es zuwege, daß Kriemhilt den großen Schatz aus dem Nibelungenland holen und an den Rhein bringen ließ. Er sollte ihr ein angemessenes Witwengehalt sein. Gêrnôt und Gîselher machten sich dazu auf die Reise. Kriemhilt befahl achttausend Männern, ihn aus dem Versteck zu holen, wo Alberich mit seinen Verwandten ihn bewachte. Als die Rheinländer ankamen, sagte Alberich: »Wir dürfen ihnen den Schatz nicht vorenthalten, wenn die Königin ihn als Witwenvermögen beansprucht. Aber wir würden es nie zulassen, wenn wir nicht mit Sîfrit leider auch die Tarnkappe verloren hätten. Daß er sie uns weggenommen hat und die Herrschaft über diese Länder, ist ihm zu seinem Unglück ausgeschlagen.« Er übergab die Schlüssel. Kriemhilts Männer und ihre Verwandten standen vor dem Berg. Der Schatz wurde an die See auf dieSchiffe getragen, sie führten ihn hinweg auf den Wellen und rheinaufwärts. Hört, wie unglaublich groß der Schatz war: Zwölf Troßwagen brauchten vier Tage und Nächte, um ihn vom Berg herunterzubringen, und jeder mußte am Tage dreimal fahren. Er bestand nur aus Gold und Edelsteinen. Wenn man auch die ganze Welt davon entlohnt hätte, so wäre er doch nicht um ein halbes Pfund Gold weniger wert. Hagen hatte ihn gewiß nicht ohne Grund haben wollen. Das Kostbarste aber lag zuunterst: eine goldene Rute. Wer sie erprobt hätte, wäre Herr über jeden Menschen in der Welt gewesen. Viele von Alberichs Verwandten zogen mit Gêrnôt fort.
Als sie den Schatz in Burgund unterbrachten und Kriemhilt die Verfügung darüber übernahm, füllte er Kammern und Türme, wie es noch nie vorgekommen ist. Aber auch wenn er tausendmal so groß gewesen wäre, so hätte Kriemhilt doch gern mit leeren Händen dagestanden, wenn Sîfrit dafür hätte leben dürfen. Niemand hat eine treuere Frau gehabt. Mit dem Schatz lockte sie viele fremde Ritter nach Burgund. Sie war unendlich freigebig. Jedermann pries ihre Tugenden. Sie beschenkte die Reichen und die Armen so, daß Hagen sagte, wenn sie noch eine Weile lebe, werde sie so viele Männer in ihren Dienst gezogen haben, daß es den Burgunden übel ergehen könne. Aber Gunther
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