Das Niebelungenlied
arme Frau den immer vor Augen haben können, der mir solches Leid zugefügt hat?« Da sagte Gîselher: »Liebe Schwester, bleib um deiner Familie willen hier bei deiner Mutter. Die dich betrübt und dein Leben schwer gemacht haben, auf die bist du nicht angewiesen. Lebe von meinem Besitz.« Sie erwiderte: »Es kann nicht sein. Ich müßte sterben vor Unglück, wenn ich Hagen sehen müßte.« – »Davor will ich dich bewahren, liebe Schwester. Du sollst bei mir bleiben, und ich will dich für den Tod deines Mannes entschädigen.« Als Gîselher ihr so freundliche Angebote machte, begannen auch Uote und Gêrnôt und alle ihr aufrichtig zugetanen Verwandten sie zu bitten. Sie hättekeine Verwandten unter Sîfrits Gefolgschaft. »Sie sind Euch alle fremd«, sagt Gêrnôt. »Niemand ist so stark, daß er nicht sterben müßte. Bedenkt das, liebe Schwester, und tröstet Euch. Bleibt bei den Freunden, das ist das beste für Euch.« Sie versprach Gîselher, dazubleiben.
Die Männer Sigemunts hatten die Pferde aus den Ställen geführt und sie mit ihren Kleidern beladen; sie wollten ins Land der Nibelungen reiten. Sigemunt trat vor Kriemhilt und sagte: »Die Männer Sîfrits erwarten Euch bei den Pferden. Wir wollen nun fortreiten, ich bin nicht gern bei den Burgunden.« Kriemhilt antwortete: »Alle Verwandten, die es redlich mit mir meinen, raten mir, ich solle bei ihnen bleiben. Ich habe keine Verwandten im Nibelungenland.« Sigemunt war sehr betrübt, als er das hörte. Er sagte: »Das laßt Euch von niemand einreden. Ihr sollt vor allen meinen Angehörigen die Krone tragen mit aller Macht, wie ihr es früher getan habt. Ihr sollt nicht entgelten, daß wir den Helden verloren haben. Und kommt doch auch um Eures Kindes willen mit uns zurück, laßt es doch nicht verwaist. Wenn Euer Sohn herangewachsen ist, wird er Euch trösten, und inzwischen werden Euch viele gute Ritter dienen.« Sie antwortete: »Herr Sigemunt, ich kann wahrhaftig nicht mit Euch reiten, ich muß hierbleiben, was auch immer mir zustößt, bei meinen Verwandten, die mir mein Leid tragen helfen.« Dieser Entschluß begann den Rittern zu mißfallen. Einhellig sagten sie: »Wenn Ihr hierbleiben wollt bei unseren Feinden, so ist uns erst recht Unglück geschehen. Eine so schlimme Reise hat kein Ritter je unternommen.« – »Ihr sollt ohne Sorge und mit Gottes Hilfe reisen. Ich sorge dafür, daß Euch nichts zustößt. Mein Kind soll Eurer Gnade anbefohlen sein.« Als sie gehört hatten, daß Kriemhilt wirklich nicht fortwollte, weinten die Männer Sigemunts alle. Wie traurig nahm SigemuntAbschied von Kriemhilt! »Weh über dies Fest!« sagt er. »Keinem König wird wohl wieder als Folge einer Einladung geschehen, was uns widerfahren ist. Man soll uns nie wieder in Burgund erblicken.« Da sagten die Männer Sîfrits unverhohlen: »Und doch könnten wir noch einmal in dies Land kommen, wenn wir herausgefunden haben, wer unseren Herrn umgebracht hat. Der hat unter seinen Verwandten Todfeinde genug.« Sigemunt küßte Kriemhilt. Wie betrübt sagte er, als er ihre Entschlossenheit sah: »So wollen wir denn freudlos heimreiten. Erst jetzt sehe ich mein Leid bis zum Grund.«
Sie verlangten kein Geleit von Worms. Sie hatten genug Selbstvertrauen, um sich zu wehren, wenn sie angegriffen wurden, und sie nahmen von niemand Abschied. Gêrnôt und Gîselher traten freundlich auf Sigemunt zu. Sie bedauerten seinen Verlust und bewiesen es ihm. Gêrnôt sagte: »Gott im Himmel weiß, daß ich an Sîfrits Tod keine Schuld trage. Ich habe nie sagen hören, daß jemand hier ihm feind sei. Ich beklage ihn aufrichtig.« Gîselher gab ihnen sicheres Geleit und brachte sie fürsorglich aus Burgund bis in die Niederlande. Wie traurig die Verwandten dort waren!
Wie ihre Reise nun verlaufen ist, weiß ich nicht zu sagen. Kriemhilt klagte zu allen Zeiten, daß niemand außer Gîselher sie tröste, aber Gîselher war treu und guten Willens. Prünhilt betrug sich mit allem Übermut. Ihr machte es nichts aus, daß Kriemhilt weinte. Sie verweigerte ihr jede Freundlichkeit. Später hat Kriemhilt auch ihr großes Unglück bereitet.
19 . WIE DER NIBELUNGENSCHATZ NACH WORMS GEBRACHT WURDE
Als Kriemhilt so verwitwet war, blieb Markgraf Eckewart mit seinen Männern bei ihr im Lande und diente ihr unermüdlich. Auch er beklagte seinen Herrn. Am Münster in Worms wurde ihr ein großes prächtiges Haus gebaut, das sie mit ihrem Gesinde ohne Freude bewohnte; sie besuchte gern und andächtig
Weitere Kostenlose Bücher