Das Niebelungenlied
rief Hagen: »Seid uns hochwillkommen, Herr von Pöchlarn und alle seine Männer!« Die Verwandten des Königs traten neben Ortwîn von Metz, der zu Rüedegêr sagte: »Wir haben zu keiner Zeit so liebe Gäste begrüßt, das muß ich wirklich sagen.« Die Ankömmlinge bedankten sich für den freundlichen Empfang und traten in den Saal vor den König und seine Männer. Der König erhob sich vom Sitz, so ehrerbietig war er gegen den Boten. Er faßte Rüedegêr bei der Hand und führte ihn zu seinem eigenen Stuhl. Den Gästen wurde ein Willkommenstrunk gereicht mit Met und dem besten Wein, den es gab am Rhein. Gîselher und Gêre waren gekommen, auch Dancwartund Volkêr fanden sich ein und begrüßten die Gäste; jedermann sah sie gern. Hagen von Tronege wandte sich an seinen Herrn: »Wir alle müssen stets entgelten, was der Markgraf uns zuliebe getan hat. Es soll ihm gelohnt werden.« Nun sagte Gunther: »Ich kann die Frage nicht mehr zurückhalten: Wie geht es Etzel und Helche im Hunnenland?« – »Ich will es Euch gern sagen«, antwortete der Markgraf. Er erhob sich mit seinem ganzen Gefolge von den Sitzen. Gunther sagte: »Was immer für Nachrichten Euch für uns aufgetragen sind, ich erlaube Euch, sie ohne vorherige Beratung vor mir und meinen Männern auszusprechen. Denn ich gönne Euch alle Ehren bei der Erfüllung Eures Auftrags.« Der Bote sagte: »Mein großer König entbietet Euch seinen Gruß und allen Euren Verwandten. Er wendet sich in aller Treue an Euch. Er läßt Euch seine Not klagen. Sein Volk ist ohne Freude: Meine Herrin, die stolze Helche, ist tot. Die Jungfrauen, die Kinder der Fürsten, die sie erzogen hat, sind verwaist zurückgeblieben. Sie haben nun niemand, der treu für sie sorgt, und ich glaube, auch darum läßt des Königs Unruhe nicht nach.« Gunther antwortete: »Gott wolle ihm vergelten, daß er mich und meine Verwandten so freundlich grüßt. Wir danken ihm alle.« Gêrnôt sagte: »Die Welt wird alle Zeit den Tod der schönen Helche betrauern, wegen der vielen Tugenden, die ihr eigen waren.« Diesen seinen Worten stimmte Hagen zu mit vielen anderen Rittern. Rüedegêr aber fuhr fort: »Wenn Ihr erlaubt, König, will ich Euch sagen, was mein lieber Herr mir noch aufgetragen hat, da seine Lage seit Helches Tod so bedrückend für ihn ist. Ihm ist berichtet worden, Kriemhilt sei ohne Mann, König Sîfrit sei gestorben. Und wenn es sich so verhält, daß Ihr es ihr gönnt, so soll sie die Krone tragen im Hunnenland: Das läßt mein Herr Euch sagen.« Der König antwortete:»Sie wird meinen Wunsch erfahren, und wenn sie bereit ist, hierauf einzugehen, will ich es Euch im Verlauf der nächsten drei Tage mitteilen. Warum sollte ich Etzel abschlägigen Bescheid geben, bevor ich ihre Meinung kenne?«
Inzwischen wurde für die Gäste gute Unterkunft vorbereitet. Man war ihnen so gefällig, daß Rüedegêr merkte, er habe Freunde an Gunthers Hof. Hagen war ihm gern zu Willen, denn früher hatte er Hagen Dienste geleistet. So blieb Rüedegêr drei Tage lang. Der König ließ seine Ratgeber zusammenrufen (daran tat er klug) und fragte, ob es seine Verwandten gut dünke, daß Kriemhilt König Etzel zum Mann nehme. Sie sprachen einmütig dafür, nur Hagen nicht, der sagte: »Wenn Ihr vernünftig überlegt, so werdet Ihr Euch davor hüten, auch wenn sie selbst darauf eingehen wollte.« – »Warum«, fragte Gunther, »sollte ich das Angebot nicht annehmen? Was ihr Liebes geschieht, das sollte ich ihr wohl gönnen; sie ist meine Schwester. Wenn es ihr zur Ehre sein soll, müßten wir uns selbst darum bemühen.« Da antwortete Hagen: »Redet nicht so. Wenn Ihr Etzel kennt, wie ich ihn kenne, so würdet Ihr wirklich Grund zur Sorge haben wegen einer solchen Heirat.« – »Warum?« fragte Gunther. »Ich werde mich wohl hüten, ihm so nahe zu kommen, daß ich seinen Unwillen errege, falls sie seine Frau wird.« Hagen blieb dabei: »Ich werde niemals dafür sprechen.«
Nun wurden Gêrnôt und Gîselher herbeigeholt und gefragt, ob es ihnen wohlgetan scheine, daß Kriemhilt den großen Hunnenkönig heirate. Nur Hagen spreche noch dagegen, sonst niemand. Gîselher sagte: »Freund Hagen, nun könntet Ihr endlich einmal anständig handeln. Entschädigt sie für das Leid, das Ihr ihr angetan habt. Wenn sie noch einmal glücklich werden kann, solltet Ihr das nicht verderben. Ihr habt meiner Schwester so viel Kummer zugefügt,daß sie gerechten Grund hat, Euch böse zu sein. Kein Mann hat eine Frau so elend
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