Das Niebelungenlied
gemacht.« Hagen sagte: »Ich will aussprechen, was ich voraussehe. Wenn Etzel sie nimmt, wird sie uns ins Unglück bringen, wie sie es vorhat. Sie hat viele stattliche Männer in ihren Diensten.« Gêrnôt antwortete darauf: »Es ist möglich, daß wir nie nach Hunnenland reiten, bevor sie beide tot sind. Wir wollen sie anständig behandeln, das wird uns Ehre machen.« Hagen sagte: »Das kann mir keiner ausreden. Ihr solltet es bleibenlassen, das stünde Euch Rittern besser an.« Zornig rief Gîselher aus: »Wir werden uns doch nicht alle schändlich benehmen! Wir sollten froh sein über alle Ehre, die ihr erwiesen wird. Was Ihr auch redet, Hagen, ich halte ihr die Treue.« Hagen wurde unmutig. Endlich einigten Gunther und Gêrnôt und Gîselher sich darauf, daß sie es gern zulassen wollten, wenn Kriemhilt die Heirat wünsche.
Da sagte Gêre: »Ich will ihr sagen, sie soll sich den König Etzel wohl gefallen lassen. Ihm sind so viele Kämpfer untertan und ergeben – er kann ihr Leid sicherlich wiedergutmachen.« Er ging zu Kriemhilt. Sie empfing ihn freundlich. »Ihr könnt mir Botenlohn geben«, sagte er. »Jetzt hat all Eure Not ein Ende. Einer der allergrößten Könige hat um Eure Liebe geworben. Das läßt Euch Euer Bruder sagen.« Die unglückliche Frau antwortete ihm: »Gott soll Euch und allen meinen Freunden doch den Mund verschließen, daß kein Spott mit mir getrieben wird. Was soll ich einem Mann bedeuten, der je mit einer Frau glücklich geworden ist?« Sie lehnte es strikt ab. Da kamen aber ihre Brüder Gêrnôt und der junge Gîselher, die baten sie inständig, sie möge sich doch trösten. Wenn sie den König nehme, könne es nur gut für sie sein. Aber niemand konnte sie überreden, noch einmal einen Mann zu lieben. Da baten sie: »Empfangt doch wenigstens die Boten, wenn es sonst nichtssein soll.« – »Das lehne ich nicht ab«, sagte sie. »Ich will Rüedegêr gern sehen seines edlen Wesens wegen. Wäre ein anderer gesandt worden, er hätte mich nie zu Gesicht bekommen. Sagt ihm, er soll morgen zu mir kommen. Ich will ihm sagen, was mein Wille ist.« Nun klagte sie wieder von neuem.
Auch Rüedegêr wünschte nichts anderes, als die Königin zu sehen. Er wußte, daß er erfahren genug war, um sie überreden zu können, wenn es überhaupt möglich war. Zur Messe am anderen Morgen kamen in Festgewändern die Boten, die mit Rüedegêr zu Hof gehen sollten; da erhob sich großes Gedränge. Kriemhilt erwartete Rüedegêr in trauriger Stimmung. Er fand sie in dem Kleid, das sie alle Tage trug, aber ihr Gesinde war prächtig gekleidet. Sie ging ihm bis zur Tür entgegen und empfing ihn sehr freundlich. Er war mit nur zwölf Gefährten gekommen, die aufmerksam begrüßt wurden, denn vornehmere Boten gab es nicht alle Tage. Man bot ihnen Platz an. Die beiden Markgrafen Gêre und Eckewart standen neben Kriemhilt. Die Hunnen sahen jedermann in Betrübnis um der Herrin willen. Viele schöne Frauen saßen bei ihr, aber sie dachte nur an ihren Kummer. Es war zu sehen, daß ihr Kleid auf der Brust naß war von Tränen. Der Gesandte begann: »Edle Königin, wollt mir und meinen Gefährten erlauben, daß wir Euch unsere Botschaft ausrichten.« – »Es sei Euch erlaubt«, sagte die Königin. »Ich will gerne hören, was Ihr zu sagen habt, denn Ihr seid ein guter Bote.« Die anderen hörten wohl, daß sie im stillen widerstrebte. Rüedegêr fuhr fort: »König Etzel entbietet Euch, edle Frau, seine tiefe Ergebenheit. Er hat uns gesandt, um Euch seine unveränderliche Liebe anzutragen, mit der er auch Helche umgeben hat, die ihm am Herzen lag. Er lebt ohne Freude, seit sie dahin ist.«
Kriemhilt antwortete: »Markgraf Rüedegêr, wenn jemand mein Elend fühlen könnte, würde er mich nicht bitten, wieder einen Mann zu lieben. Ich habe den besten verloren, den je eine Frau geliebt hat.«
»Was kann das Leid besser verdrängen als ehrliche Liebe, wenn man einen gewählt hat, der einem wohl ansteht? Nichts hilft so sehr gegen das Unglück des Herzens. Und wenn Ihr geruht, meinen edlen Herrn zu lieben, sollt Ihr Gewalt haben über zwölf bedeutende Kronen, und er wird Euch das Land von dreißig Fürsten geben, die er alle unterworfen hat. Ihr sollt auch die Herrin sein über die stattlichen Krieger, die Helche untertan waren, und über die vielen Frauen aus vornehmen Geschlechtern, die sie beherrschte. Und der König läßt Euch sagen, wenn Ihr mit ihm die Krone tragen wollt, so will er Euch mit der höchsten
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