Das Nilpferd
erfahren.
Ich bin Davids Patenonkel. Wie stehe ich zur moralischen Seite, wenn ich zulasse, daß er a) der Sensationsgeilheitder Presse zum Opfer fällt, b) zwischen Wissenschaftlern und Fanatikern hin und her geschubst wird, die darauf erpicht sind, ihn entweder als Scharlatan zu entlarven oder seine Gaben hochzuspielen?
Was meine ich mit »Gaben«? Gaben sind Dinge, die gegeben werden. Das erfordert einen Geber. Warum sollte Gott damit Zeit verschwenden, daß er die Kraft zu heilen gibt? Was ist aus dem freien Willen geworden und der Pflicht des Menschen, mit dem Leben fertig zu werden, ohne daß sein zudringlicher Schöpfer sich einmischt? Und was ist mit den Millionen, die jedes Jahr sterben werden, weil sie nie die Chance hatten, von David geheilt zu werden? Kinder in Afrika mit weggefressenen Gesichtern? Querschnittsgelähmte in Kambodscha? Leprakranke in Libyen? Die Blinden in Bali und die Tauben in Tanger? Es ist sinnlos, sinnlos, völlig sinnlos. Selbst der fehler- und boshafte Gott, den wir kennen, wäre nicht grausam genug, seinen Kindern bloß eine Handvoll Heiler zur Versorgung der vier Milliarden zu geben.
Und gäbe Gott uns einen Heiler, würde er verdammt sichergehen, daß der Erwählte mehr täte, als bloß zu heilen. Die würden in Tateinheit damit Abstinenz und Seelenheil und Höllenfeuer oder irgend so was Gottverdammtes predigen. Während David bloß unausgegoren abgeschmackten Ökomüll klugscheißt und eine Masse pantheistischen Dünnpfiff über Natur und Reinheit absondert.
Aber. Musik ist eine Gabe. Malen ist eine Gabe. Selbst Dichten ist eine Gabe. Es existieren genug augenfällige Talente und Charismata, die des Menschen Los auf Erden verbessern, warum also nicht auch eins des Heilens?Vielleicht ist nicht Gott der Gebende, sondern Genetik oder Evolution. Schließlich gibt es Hinweise darauf, daß Davids Kraft genetisch veranlagt ist, tatsächlich vererbt, wie die Gaben so vieler Musiker.
Aber. Aber, aber, aber. Um ein großer Musiker zu werden, reicht die Gabe allein nicht aus. Man muß unter Menschen leben und leiden und verstehen. Das wichtigste ist, man muß ARBEITEN. Nichts von Wert, was ich den Menschen auf dieser Erde je habe erreichen sehen, konnte ohne Arbeit vollendet werden.
Ach ja? Warum sträubst du dich so dagegen, Ted? Hast du ein Problem? Steh doch zum Zeugnis deiner Augen.
Zeugnis meiner Augen? Was habe ich denn wirklich gesehen?
Ach, komm schon. Dann eben das Zeugnis deiner Ohren.
Hörensagen.
Du weißt nur vom »Hörensagen«, daß Mexiko existiert. Zweifelst du wirklich daran?
Schon gut. Schon gut. Aber damit kommen wir beim Problem David nicht weiter. Ich habe am Taufbecken einen Eid geschworen. Sein Vater, mein Freund, erwartet Unterweisung von mir. Erstmals in seinem Leben weiß er nicht, was er machen soll. Ich kann helfen.
Das stimmt, du kannst helfen. Du kannst …
Ich brach ab. Der Klang von Stimmen näherte sich. Zwei Leute, ins Gespräch vertieft. Sie blieben unter dem offenen Fenster der Villa stehen, dem hinteren Fenster, das zum See hinausgeht.
»Das ist, glaube ich, ein ruhiges Plätzchen.« Max Cliffords Stimme.
»Sehr ruhig.« Daveys Stimme.
Ich verharrte in einer Art gaffender Unbeweglichkeit, wie ein Kind mit gestörter Feinmotorik, das Tableau vivant spielt. Sie waren wenige Meter von meinem Sitzplatz entfernt, und das geringste Geräusch aus dem Inneren des Gartenhäuschens wäre ihnen ebenso vernehmlich gewesen wie ihr Gespräch mir.
»Also gut. Ich werde direkt zur Sache kommen, David. Ich habe Oliver heute morgen gesehen.«
Keine Antwort.
»Er wollte nicht damit heraus, was geschehen ist, aber es war klar,
daß
etwas geschehen ist. Etwas mit der außergewöhnlichen Genesung Vergleichbares, die Mary und ich vor einigen Monaten bei deiner Kusine Jane erlebt haben.«
»Völlig richtig. Olivers Herz ist jetzt geheilt.«
Clifford stieß ein Lachen der Bewunderung aus.
»Erstaunlich. Einfach erstaunlich.«
»So erstaunlich ist das eigentlich nicht, weißt du. Nicht für mich.«
»Ich nehme an, diese Aktivitäten verlangen dir etwas ab?«
»Ja. Sie verlangen mir in der Tat etwas ab.«
»Es ist bloß … ich fühle mich mit dieser Bitte ziemlich lächerlich. Ich weiß sehr wohl, daß es etwas anderes ist, als wenn man jemanden bittet, einem ein Buch zu leihen oder einen Abend lang den Babysitter zu spielen.«
»Du kannst mich fragen, was du willst, Max.«
»Meine Tochter Clara hat … ein paar Sachen, die bei ihr nicht in Ordnung
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