Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
wurde schwächer, und irgendwann hörte ich nur noch ihren stockenden Atem. Wir saßen eine ganze Weile so da. Schließlich nahm sie Papiertaschentücher aus ihrer Tasche, wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. Ich stand auf und trat ans Fenster. Draußen auf dem Parkplatz hatte sich eine Gruppe standhafter Journalisten – die meisten waren schon gefahren – um einen Grill versammelt, den irgendjemand organisiert hatte. Auch die Polizisten waren gefahren, als hätten Medien und Polizei in kollektivem Einverständnis erkannt, dass der Professor demnächst irgendwo aus dem Arno gefischt oder gefesselt auf irgendeinem Rastplatz gefunden würde.
Ein Chevrolet Silverado hielt mitten auf dem Parkplatz, blieb einen Moment lang stehen und fuhr dann wieder weg. Bedeutungslos. Eine Bagatelle. Sicher ein lokaler Weinbauer, der mit eigenen Augen den Ort des Geschehens sehen wollte. Oder …
»Haben Sie die Kraft, noch einmal mit mir zu Regina Ferrari zu gehen?«, fragte ich.
»Warum?«
»Wir haben nicht wirklich mit ihr gesprochen. Über den Brief, die Besonderheiten des Textes.«
»Aber der Brief ist doch weg!«
»Vielleicht hat sie sich ja Notizen gemacht oder den Brief kopiert …«
»Schon gut.«
»Und noch etwas anderes: Wir gehen die ganze Zeit davon aus, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Was, wenn man ihr nicht trauen kann? Wir können doch nicht wissen, ob sie nicht mit denen unter einer Decke steckt.«
Ich bat sie, einen Koffer mit dem Allernotwendigsten zu packen. Zur Sicherheit. »Die Entführer gehen davon aus, dass wir jetzt den Brief haben«, sagte ich. »Man kann nie wissen …«
V
Regina Ferrari wohnte in einem Mietshaus in einer belebten Straße im Zentrum von Florenz. Die Abendsonne stand niedrig, die Luft roch nach Abgasen, nach dem Duft der Blumen auf den Hotelterrassen und nach dem Parfüm der Frauen, die Hand in Hand mit ihren Männern über die Promenade schlenderten. Ein Bogengang zog sich um das gesamte Erdgeschoss des Hauses herum. Die zweiflügelige Eingangstür lag zwischen einem Tabakladen und einer Eisdiele. Ein Hausmeister kniete auf dem Boden und reparierte das Türschloss, als Angelica und ich vor dem Eingang parkten.
»Regina Ferrari?«, fragte Angelica.
»Zweiter Stock«, antwortete er sauer, »rechts.«
Der alte Aufzug war klaustrophobisch eng und hatte eine klappernde Gittertür, fünf Druckknöpfe und eine kaputte Lampe. Ein verzierter Zeiger deutete selbstsicher auf die drei, als der Fahrstuhl im zweiten Stock hielt. Ich musste die Gittertür anheben, damit ich sie öffnen konnte. Wir kamen auf einen Flur mit gebrochenen schwarzen Fliesen. Drei Wohnungen. FERRARI stand auf einem Zettel, der mit Heftzwecken an der Tür rechts befestigt worden war. Angelica klingelte. Das Geräusch erinnerte an eine defekte Schulglocke, laut und schrill. Ein Laut, der Tote aufwecken konnte.
Von drinnen hörten wir ein Krächzen.
Während wir warteten, bemerkte ich die Kerben und Kratzer an Schloss und Türrahmen. Mit den Fingerkuppen drückte ich leicht gegen die Tür. Sie öffnete sich. Die Halterung der Türkette lag am Boden.
Angelica und ich sahen uns beunruhigt an.
»Regina?«, fragte Angelica vorsichtig. Dann noch einmal lauter: »Regina? Regina Ferrari?«
Wir gingen hinein. Der Gestank nach Rauch ließ mich schaudern. Süßlich und beklemmend.
Der Flur war kaum größer als der Aufzug. Zwei Kunstplakate an der Wand. Die Tür rechts führte in ein Badezimmer. Geradeaus lag eine schmale Küche. Schränke mit Schiebetüren, ein Spülbecken und ein Kühlschrank. Hier war nicht einmal Platz für eine Brotkiste.
»Regina Ferrari?«, sagte ich laut.
Hinter der Küche lag das Wohnzimmer, auch dieses schmal und eng, möbliert mit einem Sofa, einem Tisch und einem an der Wand montierten Flachbildschirm. Daneben stand ein Käfig, in dem ein gelbgrüner Wellensittich munter krächzte. Auf dem Tisch lag ein Stapel glänzender Modemagazine. Linkerhand war eine geschlossene Tür.
»Regina?«, rief ich.
Ich klopfte an die Tür. Fest. Sie konnte das unmöglich überhören. Auch wenn sie schlief. Aber man konnte ja nie wissen. Vielleicht war sie ja nicht allein.
»Regina?«, wiederholte Angelica laut.
Ich legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür.
K APITEL 7 Der Ritualmord
F LORENZ,
M ONTAGABEND
I
Regina Ferrari lag nackt auf dem Bett. Die Hände auf dem Bauch gefaltet. Zwischen den Fingern steckte ein Rosenkranz. Eine Gebetsschnur. Das Kruzifix ruhte auf ihrem
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