Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
vorzustellen. Jenseits der Naturgesetze und der Gravitation gibt es NICHTS . Nicht einmal Leere. Keine Dunkelheit. Eben NICHTS . Aber was ist NICHTS ? Unsere Vorstellungskraft kann das Konzept nicht erfassen. Selbst NICHTS versuchen wir mit ETWAS zu füllen. Mit einer Vorstellung von irgendetwas, das dem NICHTS Konturen oder einen Inhalt gibt. Partikel. Strahlung. Dunkle Materie. Die unsichtbare, mächtige Schwerkraft. Versteckt Gott sich in den Naturgesetzen? Sind die Naturgesetze und Gott womöglich sogar eins? Diese Frage habe ich einmal einem Pastor gestellt. Der Pastor sah mich lange an und meinte schließlich, dass ich das mit Gottes Wesen offenbar nicht verstanden hätte. Wohl wahr. Trotzdem hat der Gedanke mich nicht mehr losgelassen. Denn mit welchem Recht behauptete der Pastor, er hätte das Wesen Gottes verstanden? Durch Lektüre und Studium? Durch Beten? Jedenfalls nicht durch Demut.
II
Die Sonne flimmerte zwischen schleierdünnen Wolken hindurch, als wir Salon erreichten, ein südfranzösisches Städtchen ein paar Meilen nördlich von Marseille. Eine Freundin Angelicas hatte uns ihren Wagen geliehen, ein winziges Gefährt. Einen Mini. Bolla stand unter einer Plane im Hinterhof des Hotels in Florenz. Sicherheitshalber. Allmählich setzte meine Paranoia wieder ein.
Die Fahrt zog sich. Sieben Stunden. Weder Angelica noch ich redeten viel. Sie weinte zwischendurch. Beim Gedanken an Regina Ferrari krampfte sich mir der Magen zusammen. Waren wir schuld an ihrem Tod? Warum war sie umgebracht worden? Von wem? Trauer und Neugier, dicht beieinander. Der Mord hatte eine bizarre und erschreckende Kuriosität zur Tragödie gemacht.
Ich manövrierte den Mini durch verschlafene Straßen. Salon-de-Provence hatte seine Wurzeln in der Römerzeit. Und so sah es auch immer noch aus. Es hatte einen ganz speziellen Charme. Enge, dunkle Gässchen. Kopfsteinpflaster. Kirchen mit gewaltigen Glockentürmen. Sogar eine Burg gab es, das Château de L’Empéri. Katharina de’ Medici hatte angeblich hier gewohnt, als sie mit Nostradamus’ Hilfe Zukunftspläne geschmiedet hatte.
Ich parkte im Ortskern, auf einem Parkplatz neben einem Friedhof mit Mausoleen und prächtigen Monumenten über schlummernden Grabkammern.
III
Theophilus de Garencières wohnte im ersten Stock eines baufälligen Hauses in einer Seitenstraße des Boulevard Nostradamus. Die furchige Eingangstür sah aus, als hätte sie in einem früheren Leben als Schlachtbank gedient. Sie hing schief an völlig verrosteten Angeln. Die Treppe neigte sich bedrohlich zur Seite, und die Stufen gaben unter jedem Schritt knarrend nach. Das Geländer wackelte, und die Klingel funktionierte nicht. Trotzdem öffnete Theophilus de Garencières uns die Wohnungstür, ehe wir überhaupt angeklopft hatten. Wie eine Spinne, die reglos in ihrem Netz gesessen und nur darauf gelauert hatte, dass ihr jemand in die Falle ging.
»Frau Moretti! Herr Beltø! Willkommen!«, piepste er mit hoher Stimme, die fast ins Falsett ging. Er war ein klapperdürrer Mann mit langen, schlaksigen Gliedmaßen, die an einem gebeugten, behaarten Körper hingen. Ich stellte mir vor, wie er Angelica und mich mit seinen Facettenaugen beobachtete und kalt und gefräßig in Tausende kaleidoskopische Spiegelsplitter teilte. Ich war wohl noch etwas benommen von der langen Fahrt … Stand er auf unserer Seite oder gehörte er einem misanthropischen Netzwerk von Fanatikern an, die nicht einmal davor zurückschreckten, Kinder zu entführen und unschuldige Konservatoren zu ermorden, um an ein paar uralte Dokumente zu kommen, die die meisten von uns – seien wir mal ganz ehrlich – völlig kaltgelassen hätten?
Er bat uns in seine Wohnung, wo ein Duftmix aus sonnenwarmem Staub, kubanischem Zigarrenrauch und gekochtem Kohl in der Luft hing. Eine Wohnung voller Bücher. Überladene Regale, die vom Boden bis zur Decke reichten. Kippelige Buchstapel auf dem Boden. Das Gewicht dieser ansehnlichen Buchsammlung allein hatte das Gebäude sicher schon einen halben Meter in die Erde gedrückt und zu der Baufälligkeit und dem Abhandenkommen jeglicher rechter Winkel beigetragen. Im Wohnzimmer hatte er zwischen Buchstapeln und schiefen Zeitungs- und Zeitschriftenstalagmiten einen Platz für uns freigeschaufelt. Dabei hätte er, wie er amüsiert erzählte, endlich seine verschwundene Couchgarnitur aus den Siebzigern wiedergefunden.
»Nichts Neues von Professor Moretti?«, fragte er.
Angelica schüttelte den
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