Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
hatte. Er presste sich an den Rahmen. Der Wind ergriff seine schwarze Kutte. Er drehte den Kopf und sah ins Gebäude. Vielleicht versuchte jemand, ihn zu beruhigen, damit er wieder ins Zimmer kam. Oder jemand bedrohte ihn, sodass er nur noch springen konnte.
»Mein Gott!«, flüsterte Angelica. »Das ist er.«
»Wer?«
»Das muss er sein!« Sie musste ihre Stimme erheben, um das Geschrei um sie herum zu übertönen: »Francesco de’ Pazzi.«
Eine Taube flatterte ein paar Mal am Fenster vorbei und setzte sich dann neben ihn auf den Fenstersims.
Hoch über uns in dem fast hundert Meter hohen Turm schlug die Turmuhr schwer und dröhnend.
Der Mönch beugte sich vor. Er schien in der Menschenmenge irgendetwas zu suchen. Uns? Einen Moment lang rührte er sich nicht und sah nach unten. Er zögerte. Voller Angst.
Und dann sprang er ohne jede Vorwarnung in die Tiefe.
II
Vor Entsetzen wandte ich mich ab. Kniff die Augen zusammen. Ich wollte das nicht sehen.
Ein kollektiver Aufschrei ging durch die Menschenmenge.
Als ich wieder aufblickte, sah ich, dass der Mönch nicht unten auf den Steinen der Piazza della Signoria aufgeschlagen war, sondern dass er sich erhängt hatte.
Sein Körper hing eingehüllt in die schwarze Mönchskutte an einem Seil aus dem Fenster des Palastes und zuckte in Todeskrämpfen.
Ich dachte: Wie Francesco de’ Pazzi am Sonntag, dem 26. April 1478.
Fünf oder sechs Polizisten kamen angerannt. Angelica und ich hielten uns die Hände vor die Gesichter und versteckten uns hinter einer Gruppe Touristen. Irgendwo ertönte eine Sirene. Oben am Palastfenster waren sie bereits dabei, ihn wieder hochzuziehen.
Angelica ergriff meinen Arm und drückte sich an mich. Es fühlte sich gut an.
»Jetzt können Sie das mit der Falle wohl abschreiben«, sagte sie.
Mir kam ein neuer Gedanke. Ich nahm ihre Hand und zog sie vom Platz in eine Seitengasse. Verwirrt sah sie mich an.
»Bjørn, was tun Sie?«
»Entweder wussten sie, dass er uns hier treffen wollte, oder sie haben ihn bis hierher verfolgt.«
»Ja und?«
»Auf jeden Fall bedeutet das, dass sie jetzt hier sind!«
K APITEL 15 Piero Ficino
F LORENZ,
M ITTWOCHNACHMITTAG
I
Piero Ficino wohnte in einem Dorf knapp fünfzig Kilometer von Florenz entfernt. In einer ganz anderen Welt. Wir parkten den Mini im Schatten des Lagers eines verschlafenen Lebensmittelladens. Ficinos Haus war aus Natursteinen errichtet worden und von einem schwarzen schmiedeeisernen Gitter auf einem weiß gekalkten Sockel umgeben. Ich fragte mich, welche jugendlichen Sünden er begangen haben musste, um von der römischen Kurie hierher, in diese vergessene Idylle in den Bergen, verbannt worden zu sein.
Ein junger Hund kam kläffend auf uns zu, als wir auf das Haus zugingen. Piero Ficino öffnete die Tür, sah sich nervös um und bat uns eilig herein. Erst als er die Tür hinter uns geschlossen hatte, atmete er tief durch und hieß uns wie gute alte Freunde willkommen.
Ein großer, brauner Koffer stand direkt hinter der Tür. Darauf lagen ein Hut und ein Regenschirm.
Er folgte meinem Blick: »In Anbetracht der Tatsache, wie es einigen der anderen ergangen ist, die mit Ihnen gesprochen haben, ziehe ich es vor, meine lang ersehnten Ferien zu nehmen. Wenn ich wiederkomme, wird sich das alles wohl wieder etwas beruhigt haben.«
»Gott behüte Sie«, sagte Angelica.
Wir gingen ins Wohnzimmer und setzten uns. Ich eröffnete unser Gespräch mit einer Frage, die für mich immer wichtiger wurde: »Vater, gibt es einen Orden, der sich Vicarius Filii Dei nennt, oder ist der nur erdichtet?«
Mit der Sanftmut eines Priesters goss Piero Ficino Kaffee in unsere Tassen, bevor er antwortete: »Vicarius Filii Dei … Es ist lange her, dass ich diesen Namen zuletzt gehört habe …«
»Gibt es diesen Orden?«
»Wie ich schon an dem Vormittag gesagt habe, an dem Professor Moretti gekidnappt wurde, habe ich Ende der Fünfzigerjahre eine einfache Stellung in der Glaubenskongregation der römischen Kurie gehabt. Damals wurde die katholische Kirche von einer unerklärlichen Mordserie an katholischen Pfarrern erschüttert. Von Messina im Süden bis Trient im Norden. Insgesamt sieben Priester wurden nackt und ausgeblutet auf den Altären ihrer Kirchen gefunden. Es hieß, sie hätten sich an kleinen Jungs vergriffen. Wer weiß? Diese Behauptungen wurden niemals dokumentiert oder bewiesen. Die Serienmorde wurden aber auch niemals aufgeklärt. Ich selbst habe, in aller Bescheidenheit, in einer
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