Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
Dreiviertelspieler, den Richmond je hatte. Er war immer ein gutmütiger Bursche. Das sieht ihm ähnlich, daß er sich über das Schicksal eines Freundes bekümmert.«
Holmes sah mich nachdenklich an und schüttelte den Kopf.
»Ich komme nie dahinter, wo Ihre Grenzen liegen. In Ihnen schlummern unentdeckte Möglichkeiten. Seien Sie ein guter Junge und bringen Sie ein Telegramm zur Post: ›Werde Ihren Fall gern übernehmen‹.«
» Ihren Fall!«
»Wir dürfen ihm nicht den Eindruck machen, diese Agentur sei eine Herberge für Debile. Natürlich ist es sein Fall. Schicken Sie ihm das Telegramm, und lassen Sie die Sache bis morgen ruhen.«
Pünktlich um zehn Uhr am nächsten Morgen betrat Ferguson unser Zimmer. Ich hatte ihn in Erinnerung als einen langen schlaksigen Mann mit lockeren Gliedern und von einer beachtlichen Schnelligkeit, die ihn oft in den Rücken der gegnerischen Mannschaft trug. Sicherlich ist im Leben nichts schmerzhafter, als dem Wrack eines guten Athleten zu begegnen, den man in seiner Blüte gekannt hat. Die große Gestalt war in sich zusammengefallen, sein flachsfarbenes Haar war dünn geworden und sein Rücken gekrümmt. Ich fürchte, daß ich ähnliche Gefühle in ihm erweckte.
»Hallo, Watson«, sagte er, und seine Stimme klang noch tief und herzlich. »Du siehst nicht mehr ganz so aus wie damals, als ich dich im Old Deer Park über die Absperrung in die Menge warf. Ich nehme an, ich habe mich auch ein bißchen verändert. Aber es sind die letzten Tage, die mich alt gemacht haben. An Ihrem Telegramm habe ich erkannt, Mr. Holmes, daß es sinnlos ist, mich als jemandes Vertreter auszugeben.«
»Es ist einfacher, direkt zu verhandeln«, sagte Holmes.
»Natürlich. Aber Sie können sich vorstellen, wie schwierig es ist, von der Frau zu sprechen, die zu schützen und der zu helfen man gehalten ist. Was soll ich tun? Wie könnte ich mit solch einer Geschichte zur Polizei gehen? Und doch, die Kleinen müssen geschützt werden. Ist es Irrsinn, Mr. Holmes, ist es etwas, das im Blut liegt? Sind Sie in der Praxis schon einem ähnlichen Fall begegnet? Geben Sie mir um Gottes willen einen Rat, denn ich bin mit meiner Weisheit am Ende.«
»Das ist nur natürlich, Mr. Ferguson. Nehmen Sie Platz, fassen Sie sich und geben Sie mir ein paar klare Antworten. Ich kann Ihnen versichern, daß ich weit vom Ende meiner Weisheit entfernt und überzeugt bin, daß wir eine Lösung finden werden. Erzählen Sie mir vor allem, welche Schritte Sie unternommen haben. Ist Ihre Frau immer noch bei den Kindern?«
»Wir hatten einen schrecklichen Auftritt. Sie ist eine sehr liebevolle Frau, Mr. Holmes. Wenn je eine Frau einen Mann von Herzen, mit ganzer Seele geliebt hat, dann sie. Sie war im Innersten getroffen, daß ich dieses fürchterliche, dieses unglaubliche Geheimnis entdeckt hatte. Sie wollte nicht einmal reden. Sie beantwortete meine Vorwürfe nicht, starrte mich nur an mit einem wilden, verzweifelten Ausdruck in den Augen. Dann rannte sie in ihr Zimmer und schloß sich ein. Seitdem weigert sie sich, mich zu empfangen. Sie hat eine Zofe, die schon vor der Heirat bei ihr gewesen ist. Dolores ist ihr Name – eher eine Freundin als eine Dienerin. Sie bringt ihr das Essen.«
»Dann befindet sich das Kind nicht in unmittelbarer Gefahr?«
»Mrs. Mason, die Kinderfrau, hat geschworen, daß sie Tag und Nacht nicht von seiner Seite gehen wird. Ich kann ihr absolut vertrauen. Mehr Sorgen mache ich mir um den armen kleinen Jack, denn er ist, wie ich Ihnen in meinem Brief mitteilte, zweimal von ihr angegriffen worden.«
»Aber er wurde nie verletzt?«
»Nein. Sie hat ihn wild geschlagen. Das ist um so furchtbarer, da er ein armer kleiner, harmloser Krüppel ist.«
Fergusons scharfe Züge wurden weich, als er von seinem Jungen sprach.
»Man sollte meinen, daß die Verfassung des lieben Burschen jedermanns Herz sänftigen müßte. Ein Sturz in der Kindheit, und ein verbogenes Rückgrat ist die Folge, Mr. Holmes. Aber er hat das freundlichste, liebevollste Herz.«
Holmes hatte den Brief vom Tag zuvor genommen und überflog ihn.
»Wer wohnt sonst in Ihrem Haus, Mr. Ferguson?«
»Zwei Diener, die noch nicht lange bei uns sind, ein Stallknecht, Michael, der im Haus schläft, meine Frau, ich, mein Junge Jack, das Baby, Dolores und Mrs. Mason. Das sind alle.«
»Ist es richtig, daß Sie Ihre Frau zur Zeit der Hochzeit noch nicht gut
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