Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
unten am Strand, Sir, an derselben Stelle, wo seinen Herrn der Tod ereilte.«
»An derselben Stelle.« Die Worte prägten sich mir klar ins Gedächtnis. Nebelhaft setzte sich die Vorstellung in mir fest, daß die Sache entscheidend sein könnte. Daß der Hund gestorben war, stimmte ganz mit der herrlichen treuen Art der Hunde überein. Aber: »An derselben Stelle!« Warum sollte der einsame Strand verhängnisvoll für den Hund geworden sein? War es möglich, daß auch er das Opfer einer Rache wurde? War es möglich…? Gewiß, die Vorstellung war nebelhaft, begann aber schon irgendwie in meinem Kopf Form anzunehmen. Einige Minuten später befand ich mich auf dem Weg zum Haus ›Zu den Giebeln‹, wo ich Stackhurst in seinem Arbeitszimmer antraf. Auf mein Begehren schickte er nach Sudbury und Blount, den beiden Studenten, die den Hund gefunden hatten.
»Ja, er lag direkt am Wasser«, sagte einer von ihnen. »Er muß der Spur seines toten Herrn gefolgt sein.«
Ich sah das treue kleine Geschöpf, wie es in der Halle auf einer Matte lag – ein Airedaleterrier. Der Körper war starr und steif, die Augen hervorgetreten, die Glieder verdreht. Vom ganzen Tier war der Todeskampf abzulesen.
Vom Haus ›Zu den Giebeln‹ ging ich zu der Badestelle hinunter. Die Sonne war gesunken, und der Schatten der großen Klippe lag schwarz über dem Wasser, das stumpf schimmerte wie eine Bleiplatte. Die Gegend war verlassen, nur zwei Seevögel zogen oben kreischend ihre Kreise. Im schwindenden Licht konnte ich eben noch die Spur des kleinen Hundes erkennen, sie verlief im Sand genau um den Stein herum, auf dem das Handtuch seines Herrn gelegen hatte. Lange stand ich da, tief in Überlegungen versunken, derweil die Schatten rings dunkler wurden. In meinem Kopf jagten sich die Gedanken. Jeder hat erfahren, was es heißt, einen Alptraum zu durchleben; man fühlt, daß es ein bestimmtes Ding von äußerster Wichtigkeit gibt, nach dem man sucht und von dem man weiß, daß es da ist, und das man dennoch nie zu fassen bekommt. Genau das erlebte ich an jenem Abend, als ich allein an der Stätte des Todes stand. Schließlich des Todes stand. Schließlich riß ich mich los und wandte mich langsam heimwärts.
Ich hatte eben den Pfad bewältigt, als mir die Eingebung kam. Blitzartig bildete sich mir die Erinnerung an das, wonach ich so eifrig vergebens gesucht hatte. Sicherlich wissen Sie (oder Watson hätte mit seiner Schreiberei nichts ausgerichtet), daß ich über einen großen Vorrat von ziemlich abgelegenen und wissenschaftlich überhaupt nicht systematisierten Kenntnissen verfüge, die mir bei meiner Arbeit dennoch sehr zugute kommen. Mit meinem Hirn ist es wie mit einem überfüllten Lagerhaus, in das alle Sorten von Paketen abgelegt wurden, und zwar in solcher Menge, daß ich nicht einmal einen ungefähren Begriff davon habe, was alles sich darin befindet. Ich hatte gewußt, daß es etwas gab, das auf den Fall passen würde. Die Vorstellung war verschwommen, aber wenigstens wußte ich, wie ich sie würde klären können. Sie erschien zwar ungeheuerlich, unglaublich und lag doch im Bereich des Möglichen. Ich wollte sie bis zum letzten erproben.
Mein kleines Haus besitzt einen großen Dachboden, der mit Büchern vollgestopft ist. Dorthin zog ich mich zurück und suchte eine Stunde lang herum. Nach dieser Zeit tauchte ich wieder auf, mit einem kleinen Buch mit schokoladenbraunem Einband und silbernen Lettern. Begierig schlug ich das Kapitel auf, an das ich mich verschwommen erinnerte. Ja, es war wirklich eine weithergeholte, unwahrscheinliche Annahme, und doch konnte ich keine Ruhe finden, ehe ich mich nicht überzeugt hatte, ob sie zutraf. Ich ging sehr spät zu Bett, den Kopf voller Gedanken an die Arbeit des kommenden Tages.
Aber meine Arbeit erfuhr eine ärgerliche Verzögerung. Kaum hatte ich meine erste Tasse Tee in mich hineingegossen und wollte mich auf den Weg zum Strand machen, als Inspektor Bardle von der Polizei in Sussex mich aufsuchte – ein sicher auftretender, solider, bulliger Mann, der mich kummervoll anblickte.
»Ich weiß, Sie sind ein ungeheuer erfahrener Mann, Sir«, sagte er. »Ich komme ganz inoffiziell, und niemand braucht etwas davon zu erfahren. Aber ich bin im McPherson-Fall mit meinem Latein ziemlich am Ende. Es stellt sich die Frage: Soll ich ihn verhaften oder nicht?«
»Meinen Sie Ian Murdoch?«
»Ja, Sir. Wie oft man darüber auch nachdenkt, es kann kein anderer
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