Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
nach allem, was er durchgemacht hatte. Sonst hätte er sich viel leicht zurückgehalten. Aber er verlor völlig die Geduld.
»Unter den gegebenen Umständen, Mr. Murdoch, ist Ihre Antwort die reine Unverschämtheit.«
»Vielleicht fällt Ihre Frage unter denselben Begriff.«
»Es ist heute ja nicht zum erstenmal, daß ich Ihre unbotmäßige Art übersehen soll. Auf jeden Fall aber ist es das letzte Mal. Sehen Sie sich freundlicherweise so schnell als möglich nach einem anderen Fortkommen um.«
»Das hatte ich ohnehin vor. Heute habe ich den einzigen Menschen verloren, der das Haus ›Zu den Giebel‹ erträglich machte.« Und er ging seines Wegs, während Stackhurst ihm mit wütenden Blicken nachstarrte.
»Ist das nicht ein unmöglicher, unerträglicher Mensch?« rief er.
Das einzige, was sich mir mit Macht einprägte, war der Umstand, daß Ian Murdoch die erste sich bietende Gelegenheit ergriffen hatte, um den Schauplatz des Verbrechens zu verlassen. Verdacht, noch unbestimmt und nebulös, nahm in meinem Hirn Gestalt an. Vielleicht konnte der Besuch bei den Bellamys einiges Licht in die Angelegenheit bringen. Stackhurst faßte sich, und gemeinsam gingen wir auf das Haus zu.
Es stellte sich heraus, daß Mr. Bellamy ein Mann in mittleren Jahren mit einem flammendroten Bart war. Er schien sehr ärgerlicher Stim mung, und sein Gesicht war ebenso rot wie sein Bart.
»Nein, Sir, ich möchte nicht in die Einzelheiten gehen. Mein Sohn«, – er wies auf einen mächtigen jungen Mann mit massigem, finsterem Gesicht in einer Ecke des Wohnzimmers –, »ist wie ich der Meinung, daß Mr. McPhersons Aufmerksamkeiten gegenüber Maud beleidigend waren. Jawohl, Sir, das Wort Heirat ist nie laut geworden, und doch gab es Briefe und Stelldicheins und noch vieles sonst; das konnten wir nicht dulden. Sie hat keine Mutter mehr, nur wir beide sind ihre Beschützer. Wir sind entschlossen…«
Aber die Worte wurden ihm durch das Erscheinen der jungen Dame selbst vom Mund genommen. Es ließ sich nicht leugnen, sie hätte jeder Gesellschaft in der Welt zur Zierde gereicht. Wer hätte sich vorgestellt, daß eine solch einmalige Blume aus solcher Wurzel sprießen und in solch einer Atmosphäre gedeihen konnte? Selten habe ich mich von Frauen angezogen gefühlt, denn mein Verstand hat immer die Herrschaft über mein Herz behalten, aber dieses schöngeschnittene Gesicht, in dessen zarter Tönung sich die sanfte Frische des Küstenlandes niedergeschlagen hatte, konnte ich dennoch nicht anschauen, ohne gewahr zu werden, daß es keinem jungen Mann gelingen würde, ihren Pfad unbeschadet zu kreuzen. Von der Art also war das Mädchen, das die Tür geöffnet hatte und nun großäugig und gespannt vor Harold Stackhurst stand.
»Ich weiß schon, daß Fitzroy tot ist«, sagte sie. »Zögern Sie nicht, mir Näheres mitzuteilen.«
»Der andere Herr, mit dem du verkehrst, hat uns die Nachricht gebracht«, erklärte der Vater.
»Ich sehe nicht ein, warum meine Schwester in die Sache hineingezogen werden soll«, grollte der jüngere Mann.
Die Schwester warf ihm einen scharfen, heftigen Blick zu.
»Das ist meine Angelegenheit, William. Überlaß es mir bitte, sie auf meine Weise zu regeln. Schließlich ist ein Verbrechen verübt worden. Wenn ich dazu beitragen kann, den ausfindig zu machen, der es begangen hat, so wäre dies das mindeste, was ich für den Toten tun kann.«
Mit ungeteilter Konzentration, die mir bedeutete, daß sie neben der großen Schönheit auch einen starken Charakter besaß, lauschte sie einem kurzen Bericht meines Begleiters. Maud Bellamy wird mir für immer als eine höchst vollkommene und bemerkenswerte Frau in Erinnerung bleiben. Anscheinend kannte sie mich schon vom Sehen, denn am Ende wandte sie sich an mich.
»Bringen Sie sie vor den Richter, Mr. Holmes. Sie können auf meine Sympathie und auf meine Hilfe zählen, wer immer die Täter sein mögen.«
Mir schien, als blickte sie dabei herausfordernd ihren Vater und ihren Bruder an.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich schätze den Instinkt einer Frau in solchen Lagen hoch. Sie gebrauchten das Wort sie. Denken Sie, daß mehrere beteiligt sind?«
»Ich kannte Mr. McPherson gut genug, um zu wissen, daß er ein tapferer und starker Mann war. Kein einzelner Mensch hätte solch einen Frevel an ihm verüben können.«
»Dürfte ich mit Ihnen ein Wort unter vier Augen wechseln?«
»Misch dich
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