Das Obama-Syndrom - leere Versprechungen, Krisen und Kriege
Bauchraum. In Oakland beschwerten wir uns oft über die Alltäglichkeit der Leiden – und hier klagen wir darüber, dass es keine einfachen Fälle gibt. Statt »Schnittwunde am Finger« heißt es »Herztransplantation vor zwei Tagen«, statt »Ausschlag« nun »Goltz-Gorlin-Syndrom«, statt »Husten« »erwartet nächste Woche Lungentransplantation«.
Hier hat mich nie ein Patient verflucht und nur selten einer um ein Sandwich gebeten. Auch die Urintests zeigen nur selten Kokainspuren. Fast alle Patienten bekommen ihre Medikamente und gleich Termine für die Nachbehandlung. Meistens können sie präzise angeben, welche Arzneien sie schon nehmen; viele wissen ihre medizinische Vorgeschichte auswendig. Mehr als einmal kamen die Gurus von oben herunter, um sich einen prominenten oder sonstwie wichtigen persönlich Patienten anzusehen. Bei einer surrealen Schicht waren einmal meine ersten drei Patienten alle Ärzte. Fast nie gebe ich Patienten Medikamente für mehr als zwei Tage mit – genau so sollte eine Erstversorgung aussehen. Während einer Schicht behandle ich typischerweise mindestens drei über 90-jährige Patienten, von denen die meisten noch selbst mit dem Auto hergefahren sind. Von den Unversicherten scheint niemand so alt zu werden.
Die unter Obama ausgearbeiteten Gesetzesvorlagen ändern nichts Grundsätzliches an der massiven Ungleichheit im amerikanischen Gesundheitssystem. Sowohl die Pläne des Senats als auch die des Repräsentantenhauses sind halbherzig; sie sehen vor, noch mehr Geld in das private System zu pumpen, als Gegenleistung für minimale Konzessionen. Sie sehen keinerlei Lastenausgleich zugunsten des öffentlichen Systems vor, das sich aktuell um die ältesten und kränksten Patienten kümmert, und sie zwingen die Versicherungsbranche nicht, alle Menschen unabhängig von ihren Vorerkrankungen aufzunehmen und keine Erkrankungen auszuschließen. Nur so wäre eine allgemeine Krankenversicherung möglich. Wenn Amerikaner ver pflichtet würden, eine Krankenversicherung abzuschließen, wären Millionen gezwungen, ins private System einzuzahlen. Zig Millionen der aktuell 46 Millionen Unversicherten würden aber nach den Plänen der beiden Kammern weiter unversichert bleiben. Bei der Debatte im Kongress wurde dann wieder über Abtreibungen gestritten, statt über die medizinischen und sozialen Realitäten im Land. Dabei war die Reproduktionsmedizin überhaupt nur ins Gesamtpaket einbezogen worden, um Verhandlungsmasse zu bekommen.
In den USA ist die Gesundheitsversorgung aktuell das Bürgerrechtsthema Nummer eins. Eine Ausweitung der Versicherung wird die gewaltigen sozialen Barrieren nicht beseitigen, die zwischen Patienten und einer optimalen Versorgung stehen. Eine angemessene Erstversorgung würde die verheerenden Auswirkungen dieser sozialen Faktoren aber wenigstens lindern. Im aktuellen System muss ein unversicherter Patient, der sich verspätet, weil er einen Bus veräumt, unter Umständen Monate auf einen neuen Ter min warten. Vielleicht kann er seinen neuen Termin nicht einmal telefonisch vereinbaren. In einem funktionierenden System der Erstversorgung würde ein Patient, der einen Nachsorgetermin nicht eingehalten hat – oder einer, bei dem Nierenversagen festgestellt wurde – zurückgerufen. Er fiele nicht aus der Nachbehandlung.
Bei Grundrechten gibt es keine »Kompromisslösungen«. Manche finden, man solle nehmen, was man kriegt, und von dort aus weiterkämpfen. Ich halte das für falsch. Die Versicherungsbranche profitiert von dem aktuellen Vorschlag gewaltig – es wird sehr schwierig, ihr diese Vorteile wieder wegzunehmen. Darüber hinaus legitimiert der Gesetzesvorschlag das zutiefst ungerechte System in seinen Grundzügen, obwohl es sich ad hoc herausgebildet hat und nie von Washington explizit sanktioniert wurde. Ein desaströses Flickwerk zu tolerieren, ist eine Sache. Doch seine Vorzüge zu preisen, das geht zu weit.
Mir war sehr bewusst, welche Folgen die Unwucht in unserem Gesundheitssystem für arme Patienten hat, doch erst kürzlich wurde mir klar, welchen Schaden das System selbst bei der kleinen Minderheit anrichtet, die gut versorgt sind. Bei einer meiner ersten Schichten im Krankenhaus der Universität Kalifornien brachte mir die Empfangsschwester eine handschriftliche Nachricht von einem Patienten im Warteraum. Darin stand:
»Bitte helfen Sie mir. Mein Kiefer ist gebrochen, ich leide große Schmerzen. Ich warte schon über eine Stunde und blute noch immer.
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