Das Opfer
vorbeikäme, um es abzuholen. Der neue Reifen sowie seine Montage beliefen sich auf 221 Dollar. Keins der Mädchen hatte auch nur für einen Moment begriffen, wie lächerlich geringfügig diese Summe war, um dafür Michael O’Connell in ihr Leben zu lassen.
Abgesehen von seinem guten Aussehen war Michael O’Connell auch mit außergewöhnlich scharfen Augen ausgestattet. Es fiel ihm nicht schwer, Ashleys Silhouette bereits aus der Entfernung von über einem Häuserblock zu erkennen, und so versteckte er sich halb hinter einer Eiche, um sie ins Visier zu nehmen. Er wusste, dass ihn niemand bemerken würde; er war zu weit entfernt, es liefen zu viele Menschen vorbei, es herrschte zu dichter Verkehr und eine zu grelle Oktobersonne. Außerdemwusste er, dass er die Fähigkeit entwickelt hatte, wie ein Chamäleon mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Eigentlich hätte er bei seiner Gabe, sich ständig in jemand anderen zu verwandeln, wirklich Schauspieler werden sollen.
In einer heruntergekommenen Kneipe, in der Alkoholiker und Kleinkriminelle verkehrten, ließ er den knallharten Typen raushängen. Unter Bostons Studentenscharen gab er sich ebenso selbstverständlich als College-Kid. Der mit Computerbüchern zum Bersten gefüllte Rucksack kam ihm dabei zupass. Michael O’Connell fand, dass er perfekt zwischen den Welten hin und her wanderte, indem er sich grundsätzlich darauf verließ, dass die Menschen sich nicht mehr als eine Sekunde nahmen, um ihn zu taxieren.
Hätten sie genauer hingesehen, hätten sie es wohl mit der Angst zu tun bekommen.
Ein einziger Blick genügte, um in der Gruppe der jungen Leute Ashleys rotblonden Schopf auszumachen. Etwa ein halbes Dutzend von ihnen saß in einem losen Kreis beim Lunch zusammen. Sie lachten und erzählten sich etwas. Er wusste, dass er, wäre er der Siebte in ihrer Runde gewesen, nur schweigend dagesessen hätte. Dabei war er ein guter Lügner, er konnte plausible Geschichten erfinden, und die Leute glaubten ihm – wer er war, wo er herkam, was er schon gemacht hatte, doch in einer Gruppe hatte er immer Angst, es könnte mit ihm durchgehen, er könnte etwas Unbedachtes, Unwahrscheinliches sagen und unnötig Zweifel säen, was er auf jeden Fall vermeiden musste. War er dagegen mit einer von ihnen, mit Ashley, allein, dann fiel es ihm nicht schwer, verführerisch zu sein und Anteilnahme zu wecken.
Michael O’Connell beobachtete die Mädchen und überließ sich der langsam aufsteigenden Wut.
Es war ein vertrautes Gefühl, das er einerseits willkommenhieß und andererseits hasste. Es war nicht dasselbe wie die Wut vor einer Schlägerei oder bei einem Streit mit seinem Chef, egal welchen Gelegenheitsjob er gerade hatte, oder mit seinem Vermieter oder der alten Frau, die neben seinem winzigen Apartment wohnte und ihn mit ihren Katzen und ihren argwöhnischen Blicken nervte. Er konnte sich mit jedem anlegen, auch handgreiflich werden, und es hatte nichts zu sagen. Doch seine Gefühle gegenüber Ashley waren etwas vollkommen anderes.
Er wusste, dass er sie liebte.
Wenn er sie aus sicherer Entfernung unerkannt beobachtete, brodelte er innerlich. Er versuchte, sich zu entspannen, doch es gelang ihm nicht. Er wandte sich ab, da es einfach zu weh tat, aus der Ferne hinüberzusehen, doch ebenso schnell drehte er sich wieder zurück, weil es noch viel unerträglicher war, sie
nicht
zu sehen. Jedes Mal, wenn sie lachte, wenn sie den Kopf zurückwarf und ihr das Haar verführerisch über die Schulter fiel, wenn sie sich vorbeugte, um jemandem zuzuhören, stand er Qualen aus. Jedes Mal, wenn sie die Hand ausstreckte und zufällig die eines anderen streifte, trieb es ihm Eispickel in die Brust.
Michael O’Connell starrte hinüber und hatte das Gefühl, fast eine Minute nicht mehr geatmet zu haben.
Sie schnürte ihm die Luft ab, so dass er nicht mehr klar denken konnte.
Er griff in seine Hosentasche und fühlte nach dem Messer – keins von diesen Schweizer Messern, wie man sie bei den Bostoner Studenten hundertfach im Rucksack finden konnte, sondern ein zehn Zentimeter langes Klappmesser, das er in Somerset in einem Laden für Campingartikel gestohlen hatte. Es hatte ein beachtliches Gewicht. Er legte die Hand darum und drückte fest zu, und obwohl die Klinge im Griff versenkt war,schnitt es ihm ins Fleisch. Ein bisschen zusätzlicher Schmerz, dachte er, macht den Kopf frei.
Michael O’Connell liebte es, die Waffe bei sich zu haben, weil sie ihm das Gefühl gab, gefährlich zu
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