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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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schon immer mit dem Dilemma gekämpft, dass sie – auch wenn sie den Krieg zeigt, wie er ist – ihn noch nie verhindern konnte, sondern immer nur als Kunst gefeiert wird. Wir fühlen uns von
Guernica
magisch angezogen und sind ungemein beeindruckt von Picassos tiefer Vision, aber empfinden wir deshalb mit den Bauern, die im Bombenhagel gestorben sind, so etwas wie Mitgefühl? Sie waren mal Menschen aus Fleisch und Blut. Ihr Tod war real. Doch er wird dem Kunstwerk untergeordnet.«
    Das wiederum sagte Will, ihr Rendezvous. Ashley räumte ein, dass es eine kluge Bemerkung war, andererseits aber auch etwas, das jeder x-beliebige, politisch korrekt denkende College-Student hätte sagen können. Sie warf einen Blick zu den lauten Baseballspielern hinüber. Auch wenn der Alkohol eine Rolle spielte, gefiel ihr der Überschwang an ihrer Kabbelei. Sie liebte es, mit einem Bier im Fenway-Park-Stadion zu sitzen, aber auch, durchs Museum of Fine Art zu schlendern. Sie war sich nicht sicher, in welche Diskussionsrunde sie besser passte.
    Ashley warf Will einen verstohlenen Blick zu. Wahrscheinlich glaubte er, dass er ein Mädchen mit intellektueller Protzerei am schnellsten ins Bett bekam. Das war typisch für ältere Semester. Sie beschloss, ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen.
    Ashley schob abrupt ihren Stuhl zurück und stand auf. »He!«, brüllte sie. »Ihr da drüben, seid ihr vom BC? Von der BU? Der Northeastern?«
    Der Tisch der Baseballspieler verstummte augenblicklich. Wenn ein schönes Mädchen jungen Männern etwas zuruft, kann sie sich sicher sein, volles Gehör zu finden.
    »Northeastern«, erwiderte einer von ihnen und erhob sich halb, um ihr mit fernöstlicher Höflichkeit zuzunicken, was zur Etikette der Rowdy-Bar allerdings in krassem Gegensatz stand.
    »Na ja, wer Lobeshymnen auf die Yankees singt, der kann sie gleich auf General Motors oder IBM singen oder auf die Republikaner. Ein Red-Sox-Fan zu sein hat was mit Poesie zu tun. Jeder kommt einmal an einen Scheideweg im Leben, an dem er Farbe bekennen muss. Genug der Worte.«
    Die anderen Jungs am Tisch brachen in schallendes Gelächter und gespielte Empörung aus.
    Will lehnte sich grinsend zurück. »Das«, sagte er, »nenne ich knapp und bündig geantwortet.«
    Ashley lächelte und fragte sich, ob er am Ende doch ganz nett war.
     
    In früheren Jahren hatte sie manchmal gedacht, dass es wohl im Grunde leichter war, unscheinbar zu sein. Unscheinbare Mädchen konnten sich verstecken.
    Mit dreizehn oder vierzehn hatte sie eine radikale Phase durchgemacht, in der sie so ziemlich gegen alles war: Sie führte lautstarke, fußstampfende Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren Lehrern, ihren Freunden, trug schlabberige, sackartige, erdfarbene Klamotten, setzte eine leuchtend rote Strähne in ihrem Haar direkt neben eine tintenschwarze, hörte Grunge-Rock, trank starken, schwarzen Kaffee, probierte es mit Rauchen und sehnte sich nach Tattoos und Body-Piercings. Diese Phase hatte ein paar Monate angehalten, lange genug, um sich mit so ziemlich allem, was sie an der Schule machte, sowohl im Unterricht als auch beim Sport, Ärger einzuhandeln. Es kostete sie ein paar Freundschaften, und diejenigen, die ihr die Stange hielten, runzelten ein wenig besorgt die Stirn.
    Zu Ashleys Überraschung war in diesem Lebensabschnitt die einzige Erwachsene, mit der sie in halbwegs zivilisierter Weise reden konnte, Hope, die Gefährtin ihrer Mutter. Das war wirklich erstaunlich, da ein Teil von ihr Hope für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich machte und sie ihren Freunden oft erzählt hatte, wie sehr sie die Frau dafür hasste. Diese Unwahrheit hatte ihr zu schaffen gemacht, schon weil es das war, was ihre Freunde von ihr hören wollten, und es sie beunruhigte, dass sie ihnen nach dem Munde redete. Nach Grunge und Gothic hatte sie sich eine Zeitlang in der Rolle der Musterschülerinim Schottenröckchen gefallen, danach dann als Sportfanatikerin, worauf sie sich einige Wochen lang dem Veganertum verschrieb und nur noch Tofu und Veggie-Burger aß. Sie hatte sich im Theaterspielen versucht und ganz passabel die Bibliothekarin Marian in dem Musical
The Music Man
hingelegt, hatte sich in seitenlangen Ergüssen ihrem Tagebuch anvertraut, sich zeitweise als Emily Dickinson, Eleanor Roosevelt und Carrie Nation stilisiert – mit einem Touch von Gloria Steinem und Mia Hamm. Sie hatte für Habitat for Humanity an einem Haus mitgebaut und war mit dem größten

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