Das Opfer
innerlich unruhig wurde. In einem solchen Moment war es im Grunde egal, ob er gewann oder verlor, Hauptsache, er spürte die Erleichterung, die ihm ein paar Fausthiebe verschafften. Das Gefühl, wenn seine Hand das Fleisch eines anderen traf, war so köstlich und berauschend, dass selbst der Schnaps nicht mithalten konnte. Er wusste, dass es das Pochen in seinem Fuß vertreiben und ihn für Stunden mit Energie aufladen würde. Er starrte den Barkeeper an. Er war bedeutend älter als O’Connell, bleich, mit einem unübersehbaren Wanst. Kein großer Schlagabtausch, dachte O’Connell, während er merkte, dass sich seine eigenen festen Muskeln anspannten, um die geballte Energie zu entladen. Der Barkeeper beobachtete ihn scharf; jahrelange Erfahrung hatten ihn gelehrt, im Gesicht eines Kunden zu erkennen, was in diesem vorging.
»Meinen Sie, ich hätte kein Geld?«
»Lassen Sie mal sehen«, erwiderte der Mann hinter dem Tresen. Er trat zurück, und O’Connell registrierte, wie die anderen Männer an der Bar zur Seite gewichen waren und den Blick zur dunklen Decke hoben. Auch ihnen war diese Art Konflikt nicht neu.
Er wendete sich wieder dem Barkeeper zu. Der Mann war zu alt und mit der zwielichtigen Welt der heruntergekommenen Bar zu vertraut, um auf so etwas nicht vorbereitet zu sein. Und in dieser Sekunde erkannte O’Connell, dass der Barkeeper etwas in der Hinterhand hatte, das seine mangelnde Muskelkraft ersetzte. Einen Aluminium-Baseballschläger oder vielleicht eine hölzerne Fischkeule mit kurzem Griff. Möglicherweise auch etwas Effizienteres wie eine verchromte Neunmillimeter oder ein Kaliber .12. Nein, nicht die Neunmillimeter. Zuschwierig zu laden. Etwas Älteres, Antikeres, zum Beispiel eine .38 Police Special, entsichert, mit Kugeln für Pappziele geladen, um die Durchschlagskraft auf Menschen zu optimieren und gleichzeitig den Sachschaden für die Einrichtung möglichst gering zu halten. Er glaubte nicht, dass er schnell genug über den Tresen hechten konnte, um den Barkeeper zu packen, bevor der nach der Waffe griff.
Na schön, dachte er achselzuckend. Er schnellte herum und funkelte den Gast an, der ein paar Schritte von ihm entfernt lehnte.
»Was guckst du so, du alter Sack?«, schnauzte er ihn an.
Der Mann hielt den Blick abgewandt.
»Wollen Sie noch einen Drink?«, wollte der Barkeeper wissen.
O’Connell konnte die Hände des Mannes nicht mehr sehen. Er lachte. »In so ’nem Scheißladen jedenfalls nicht«, sagte er. Er stand auf und ließ im Hinausgehen die Männer schweigend zurück. Er nahm sich vor, dem Kerl bei Gelegenheit einen Besuch abzustatten, was ihn mit einer Woge der Befriedigung erfüllte. Es gab nichts Angenehmeres im Leben, als sich an eine Grenze zu wagen und die Möglichkeit der Eskalation zu genießen. Wut war wie eine Droge; in Maßen genossen, machte sie ihn high. Doch in regelmäßigen Abständen war es nötig, sie so richtig auszukosten und sich ganz zu verausgaben. Er sah auf die Uhr. Kurz nach Mittag. Manchmal kam Ashley für ein Sandwich mit befreundeten Kunstgeschichtsstudenten auf die Campuswiese. Da war es ein Kinderspiel, sie im Auge zu behalten, ohne von ihr entdeckt zu werden. Vielleicht sollte er einfach rüberschlendern und nach ihr sehen.
Das erste Mal war Michael O’Connell Ashley Freeman durch Zufall vor sechs Monaten begegnet. Er arbeitete als Teilzeit-Automechanikeran der Tankstelle nicht weit von der ausgebauten Massachusetts Turnpike, während er in seiner Freizeit Computerkurse belegte und sich am Wochenende in einer Studentenkneipe in der Nähe der Uni als Barkeeper ein bisschen dazuverdiente. Sie war von einem Skiwochenende mit ihren Freundinnen zurückgekehrt, als ihnen dank eines der in Boston allgegenwärtigen Schlaglöcher der rechte Hinterreifen platzte und zerfetzte, was im Winter ziemlich oft vorkam. Ihre Zimmergenossin hatte den Wagen in die Werkstatt bugsiert und O’Connell den Reifen gewechselt. Da die Visa-Karte der Zimmergenossin durch die Eskapaden am Wochenende ausgereizt war und zurückgewiesen wurde, hatte O’Connell den Reifen mit seiner eigenen Kreditkarte bezahlt, ein Akt der Großzügigkeit und des scheinbaren Samaritertums, der auf die vier Mädchen im Wagen seine Wirkung nicht verfehlte. Sie wussten natürlich nicht, dass die Karte, die er benutzte, gestohlen war, und hatten ihm bereitwillig ihre Adressen und Telefonnummern gegeben und ihm versprochen, bis Mitte der Woche das Geld bereitzuhalten, wenn er kurz
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