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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sein.
    Manchmal kam es ihm so vor, als bewegte er sich in einer Welt von Menschen, die alle im Begriff standen, etwas zu werden. Studenten wie Ashley waren im Aufbruch zu etwas anderem, als sie im Augenblick noch waren. Jura für die künftigen Anwälte, Medizin für die angehenden Ärzte. Kunst. Philosophieseminare. Fremdsprachenstudium. Medienwissenschaft. Jeder wurde irgendetwas, war kurz davor, eine Laufbahn einzuschlagen und irgendwo dazuzugehören.
    Er wünschte, er wäre zur Armee gegangen. Er konnte sich gut vorstellen, dass er beim Militär mit seinen Talenten genau am richtigen Platz gewesen wäre, vorausgesetzt, sie hätten dar über hinweggesehen, dass er Befehle nicht gut vertrug. Vielleicht hätte er es beim CIA versuchen sollen. Aus ihm wäre ein ausgezeichneter Spion geworden. Oder auch Auftragskiller. Das hätte ihm gefallen. Eine Art James Bond. Er wäre ein Naturtalent gewesen.
    Stattdessen, erkannte er, war er auf dem besten Weg zum Kriminellen. Sein liebstes Studienfach war die Gefahr.
    Einen Häuserblock entfernt kam Bewegung in die Gruppe. Wie auf Kommando standen sie auf, strichen sich die Kleider sauber und hatten keine Ahnung, was außerhalb ihrer albernden, lachenden Runde vor sich ging.
    Er setzte sich in Bewegung und folgte ihnen langsam, wobei er darauf achtete, immer denselben Abstand einzuhalten und sich auf dem Bürgersteig unter die anderen Fußgänger zu mischen, bis Ashley zusammen mit den anderen die Eingangstreppe zu einem Gebäude hinaufstieg und verschwand.
    Er wusste, dass ihr letztes Seminar um 16:30 zu Ende war. Anschließendging sie für zwei Stunden zu ihrem Job im Museum. Er war neugierig, ob sie an diesem Abend schon etwas vorhatte.
    Er schon. Er hatte immer etwas vor.
     

     
    »Eins verstehe ich nicht …«
    »Was meinen Sie?«, fragte sie mit der Geduld eines Lehrers gegenüber einem begriffsstutzigen Schüler.
    »Wenn dieser Kerl …«
    »Michael. Michael O’Connell. Hübscher irischer Name. Geläufiger Name in Boston. Von Brockton bis Somerville und darüber hinaus muss es Tausende davon geben. Erinnert an Messdiener, die Weihwasser schwenken und im Kirchenchor singen, oder an Feuerwehrleute mit Uilleann Pipes an einem kalten, windigen St. Patrick’s Day.«
    »Mit anderen Worten, er heißt nicht wirklich so? Das gehört zu dem Puzzle, richtig? Wenn ich der Sache nachginge, würde ich bei dem Namen nicht fündig, stimmt’s?«
    »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«
    »Sie machen mir die Sache schwerer als nötig.«
    »Meinen Sie? Finden Sie nicht, dass ich das am besten beurteilen kann? Vielleicht gehe ich ja davon aus, dass Sie früher oder später aufhören, mir Fragen zu stellen, und versuchen, die Wahrheit selbst herauszufinden. Sie wissen schon jetzt genug, um zumindest einen Anfang zu machen. Sie werden das, was ich gesagt habe, mit dem vergleichen, was Sie in Erfahrung bringen können. Darum geht es ja. Und ich möchte es Ihnen nicht allzu leicht machen. Sie nennen es ein Puzzle. Ich denke, das trifft es.«
    Sie war ziemlich direkt. Falls das, was sie sagte, bedächtig klingen sollte, kam es bei mir jedenfalls nicht so an.
    »Meinetwegen«, gab ich nach, »also weiter im Takt. Wenn dieser Michael tatsächlich auf ein randständiges Leben zusteuerte und dabei war, die Karriereleiter der Kleinkriminalität hochzustolpern, wie passt da Ashley ins Bild? Ich meine, sie müsste diesen Kerl doch in zwei Sekunden durchschaut haben, oder? Sie war recht gebildet. Sie hat vielleicht schon Vorlesungen über Stalker und ähnliche Leute gehört. Ich bitte Sie, selbst in der Gesundheitsfibel der staatlichen Highschools findet sich ein Abschnitt über diese Typen, in alphabetischer Reihenfolge, die kommen direkt hinter dem Stichwort Sexualität. Sie muss folglich ziemlich schnell begriffen haben, mit wem sie es zu tun hat, und dann hätte sie doch alles darangesetzt, ihn loszuwerden. Was Sie erzählen, klingt nach obsessiver Liebe, aber dieser O’Connell erscheint mir eher wie ein Psychopath, und …«
    »Ein angehender Psychopath, ein Möchtegern-Psychopath …«
    »Ja, meinetwegen, aber wo nahm die Obsession ihren Anfang?«
    »Gute Frage«, räumte sie ein. »Und eine, die eine Antwort verdient. Aber bei allen Stärken, über die Ashley verfügt, liegen Sie falsch, wenn Sie glauben, sie hätte erkennen müssen, dass sie sich mit Michael O’Connell ein Problem eingehandelt hat.«
    »Kann schon sein. Was war es denn für sie?«
    »Theater«, antwortete sie.

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