Das Opfer
Die Luft war schon jetzt empfindlich kalt und kündete von noch strengeren Nächten. So ist Vermont nun mal, dachte sie, es warnt einen vor dem, was kommt, vorausgesetzt, man achtet darauf. Ein kalter Geschmack dunklen Himmels auf den Lippen und ein taubes Gefühl in den Wangen, über ihr das Knarren in den Bäumen und morgen früh eine hauchdünne Eisschicht auf den Teichen. In den kommenden Tagen würde es Schauer geben. Sie nahm sich vor, nachzusehen, wie viel Brennholz sie hinter dem Haus gestapelt hatte. Sie wünschte sich, Menschen so gut deuten zu können wie das Wetter.
Der Bus aus Boston hatte ein wenig Verspätung, und statt drinnen bei der Kegelbahn oder im Restaurant zu warten, warsie ins Freie getreten. Grelles Licht machte sie seltsam nervös; sie fühlte sich im Schatten und im Nebel wohler.
Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Ashley, auch wenn sie wie immer ein wenig hilflos überlegte, als was sie ihren Besuch vorstellen sollte. Ashley war nicht ihre Enkeltochter und auch keine Nichte. Sie gehörte nicht durch Adoption zur Familie, auch wenn das der Sache am nächsten kam. Vermonter mischten sich normalerweise nicht in anderer Leute Privatangelegenheiten ein, sondern hielten es mit der alten Weisheit von Neuengland: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Trotzdem würden die Frauen ihrer Kirche und die Leute hinter der Theke des Gemischtwarenladens oder im Haushaltswarengeschäft oder auch sonst überall, wo man sie seit Ewigkeiten kannte, ihr Fragen stellen. Hier oben hatten sie alle feine Antennen für die kleinsten Anzeichen von Scheinheiligkeit. Und die Tatsache, dass sie die Tochter der Lebensgefährtin von Hope bei sich zu Hause willkommen hieß, während sie diese Beziehung nicht gutheißen konnte, mochte für Zündstoff sorgen.
Catherine legte den Kopf zurück und ließ den Blick über den schwarzen Baldachin schweifen. Sie fragte sich, ob man so viele widersprüchliche Gefühle in sich vereinen konnte, wie es Sterne am Himmel gab.
Ashley war noch ein Kind gewesen, als sie in Catherines Leben trat. Sie dachte an ihre erste Begegnung und musste unwillkürlich schmunzeln. Ich hatte zu viele Sachen an, erinnerte sie sich. Es war heiß, aber ich trug einen wollenen Rock und Pullover. Wie dumm von mir. Ich muss auf sie gewirkt haben, als wäre ich hundert Jahre alt.
Catherine war steif, ja, aberwitzig förmlich gewesen und hatte der Elfjährigen die Hand hingestreckt, als Ashley ihr vorgestellt wurde. Doch das Kind hatte sie vom ersten Moment anbezaubert, und so rührte der Waffenstillstand mit ihrer eigenen Tochter sowie der höfliche Anschein, den sie gegenüber deren Lebenspartnerin (sie hasste das Wort, es klang so geschäftsmäßig) wahrte, entscheidend von ihrer Zuneigung zu Ashley her. Sie hatte wilde Kindergeburtstage und entsetzlich nasse Fußballspiele besucht und Ashley bei einer Highschool-Theateraufführung als Julia bewundert, auch wenn sie es gehasst hatte, sie auf der Bühne sterben zu sehen. Sie hatte abends auf ihrer Bettkante gesessen, als mit Ashleys erstem Freund Schluss war und die Fünfzehnjährige sich die Augen aus heulte, und sie war in rasantem Tempo, viel schneller als sonst, gefahren, um Ashley in ihrem Abschlussballkleid zu fotografieren. Sie hatte Ashley gepflegt, als sie die Grippe hatte und Sally bei Gericht eingespannt war; sie hatte neben ihr auf dem Boden geschlafen und die ganze Nacht auf ihren Atem gelauscht. Sie hatte Ashley gastlich aufgenommen, als sie mit voller Campingausrüstung und ein paar College-Freunden bei ihr aufgetaucht war, um auf dem Weg in die Green Mountains haltzumachen. Ein paar Mal hatte sie Ashley in Boston zum Dinner eingeladen, und in besonders glücklicher Erinnerung hatte sie ihren Ausflug in die Metropole, als sie überdachte Tribünenplätze im Fenway Stadion ergattert hatten: Catherine war unter irgendeinem Vorwand in die Stadt gefahren, obwohl sie in Wahrheit nur Ashley wiedersehen wollte.
Sie scharrte mit den Füßen im Schotter des Parkplatzes und wartete auf den Bus, während sie denken musste, dass ihr das Leben zwar die Enkelkinder versagt hatte, die sie sich gewünscht und mit denen sie gerechnet hatte, dass sie mit Ashley dafür aber vom Schicksal gesegnet war. Von dem Moment an, als das Kind schüchtern zu ihr hochgeblinzelt und sie gefragt hatte: »Möchtest du mein Zimmer sehen? Vielleicht können wir ein Buch zusammen lesen?«, hatte sie das Gefühl gehabt,mit der Kleinen in eine andere Welt
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