Das Opfer
Trinkgeld und erklärte betont: »Italien, ich fliege nach Florenz. Ich studiere im Ausland.« Ob er allerdings ein einziges Wort verstanden hatte, konnte sie nicht sagen.
Sie rollte ihr Gepäck in die Abflughalle und durchquerte sie zum Takt der startenden und landenden Jets über der Hafenbucht. Bei den verschiedenen Reihen, die sich am Check-in gebildet hatten, herrschte eine gewisse Hektik. Ein aufgeregtes Schnattern in allen möglichen Sprachen hing in der Luft. Sie blickte zum Ausgang, dann drehte sie sich abrupt nach rechts und steuerte die Fahrstühle an, wo sie auf eine Menschentraube stieß, die mit einem Air-Lingus-Flug aus Shannon eingetroffen war, allesamt Rotschöpfe mit weißer Haut, die schnellund mit Akzent munter durcheinanderredeten. Sie trugen die nicht zu übersehenden grün-weißen Streifen von Celtic und waren auf dem Weg zu einer großen Familienfeier in South Boston.
Ashley fand an der Rückseite des Aufzugs ein bisschen Platz und öffnete hastig ihre Tasche. Sie stopfte ihre Strickmütze, die Fleecejacke und Sonnenbrille hinein und zog eine rotbraune Baseballkappe des Boston College sowie einen braunen Ledermantel heraus. Blitzschnell kleidete sie sich um und war dankbar dafür, dass die Mitfahrenden sich offenbar nichts dabei dachten.
Im dritten Stock stieg sie Richtung Parkhauszugang aus. Auf dem grauen, düsteren Parkgelände, wo es nach Öl stank und von quietschenden Reifen auf den kreisrunden Rampen widerhallte, lief sie zügig zu den Inland-Terminals hinüber. Dann folgte sie den Schildern zur Busverbindung Richtung U-Bahn-Station.
Im U-Bahn-Abteil befand sich nur ein halbes Dutzend Menschen, und Michael O’Connell war nicht darunter. Es bestand keine Gefahr, dass er ihr folgte. Jetzt nicht mehr. Allmählich kam bei ihr so etwas wie freudige Erregung auf und ein berauschendes Gefühl der Freiheit. Ihr Herz schlug höher, und ihr wurde bewusst, dass sie lächelte, vermutlich zum ersten Mal seit Tagen.
Dennoch hielt Ashley sich streng an die Instruktionen ihres Vaters und räumte innerlich ein: Sie mögen verrückt sein, aber sie scheinen zu funktionieren. Sie stieg in der Congress Street aus und lief, immer noch mit ihrem doppelten Gepäck, die wenigen Häuserblocks bis zum Kindermuseum. Hinter der Eingangstür gab es eine Stelle, an der sie ihre Taschen aufgeben und eine Eintrittskarte lösen konnte. Dann begab sie sich in das verschlungene Labyrinth des Museums und wanderte vomLego-Raum zum naturwissenschaftlichen Teil, wo sie ein Heer von kichernden, lebhaften Kindern mit ihren Eltern oder Lehrern umgab. Als sie inmitten des aufgeregten, fröhlichen Lärms verharrte, begriff sie plötzlich die Logik ihres Vaters: Trotz der verwinkelten Anlage, der Treppen und Rutschen hätte sich O’Connell an diesem Ort nicht verstecken können. Man hätte ihm sofort angesehen, dass er hier nicht hingehörte, wohingegen Ashley problemlos als Kindergärtnerin oder Babysitter durchging, die sich mühsam ihren Weg durch die Menge der Besucher bahnte.
Sie sah auf die Uhr und hielt sich weiterhin an den Plan. Exakt um sechzehn Uhr holte sie ihr Gepäck wieder ab und stieg unverzüglich in eines der Taxis, die draußen warteten. Diesmal suchte sie sorgsam die Straße nach Michael O’Connell ab. Das Museum lag in einem ehemaligen Lagerhausviertel, und die breite Straße war in beide Richtungen gut zu überschauen. Sie erkannte, wie genial sie den Schauplatz ausgesucht hatten: kein Versteck, keine dunklen Gassen, Bäume oder schattigen Winkel.
Ashley lächelte zufrieden und bat den Fahrer, sie zur Peter-Pan-Bushaltestelle zu bringen. Der Mann murrte, das sei eine zu kurze Strecke, aber das war ihr egal; zum ersten Mal seit Tagen war sie befreit von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Als sich das Taxi seinen Weg durch das südliche Boston bahnte, summte sie sogar leise vor sich hin.
Für einen Bus, der in weniger als zehn Minuten abfahren sollte, kaufte sie einen Fahrschein nach Montreal. Er machte Station in Brattleboro, Vermont, bevor er nach Kanada weiterfuhr. Sie würde lediglich ein gutes Stück vor ihrem gebuchten Reiseziel aussteigen. Und sie freute sich darauf, Catherine wiederzusehen.
Als sie in den Bus stieg, schlug ihr ein Gestank nach Abgasenund Schmieröl entgegen. Es war bereits dunkel, und grelle Neonstreifen glitzerten an der silbrigen Karosserie des Busses. Ganz hinten fand sie einen Fensterplatz. Einen Moment lang starrte sie in das zunehmende Dunkel und staunte, dass sie sich
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