Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
nachempfinden können, was er durchlebte. Nicht eine Sekunde.
    Er runzelte die Stirn. Der einzige Mensch, dem er sich wirklich mitgeteilt hatte, war Sally gewesen. Und sie würde er jetzt nicht anrufen. Gerade jetzt nicht.
    Tiefste Verbitterung wallte einen Moment lang in ihm auf.
    Sie hatte ihn verlassen, um mit Hope zusammenzuziehen. Es war ein klarer Schnitt gewesen. Von einem Augenblick auf den anderen. Taschen und Koffer, die gepackt in der Diele standen, während er um die richtigen Worte rang, obwohl er wusste, dass es die nicht gab. Er hatte gewusst, dass sie unglücklich war. Er hatte gewusst, dass sie sich unerfüllt fühlte und dass Zweifel an ihr nagten. Doch er hatte angenommen, das hinge mit ihrer Karriere zusammen oder mit einer Art Midlife-Crisisoder auch nur mit der Langeweile der selbstgenügsamen liberalen, akademischen Welt, in der sie sich zusammen eingerichtet hatten. Das alles war nachvollziehbar, man konnte darüber diskutieren, es einordnen und begreifen. Völlig unbegreiflich war ihm dagegen, dass alles, was einmal gegolten hatte, mit einem Mal eine Lüge sein sollte.
    Einen Moment lang stellte er sich Sally mit Hope im Bett vor. Was kann sie ihr geben, das ich ihr nicht geben konnte?, fragte er sich und merkte im selben Augenblick, dass dies eine überaus gefährliche Frage war und er die Antwort darauf lieber nicht wissen wollte.
    Er schüttelte den Kopf. Die Ehe war eine Lüge gewesen, dachte er. Sämtliche Liebesbeteuerungen und der Wunsch, fürs Leben zusammenzubleiben, waren gelogen. Das einzig Wahre, das aus alledem hervorgegangen war, das war Ashley, und selbst da war er sich letztlich nicht sicher. Hat sie mich geliebt, als wir sie empfangen haben? Hat sie mich geliebt, als sie mit ihr schwanger war? Wusste Sally bei Ashleys Geburt, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hatte? Oder kam das ganz plötzlich? Oder hat sie es die ganze Zeit gewusst und es nur nicht wahrhaben wollen? Er senkte den Kopf und überließ sich der Flut von Bildern, die ihn bedrängten. Wie Ashley am Strand spielt. Wie Ashley in den Kindergarten geht. Wie Ashley ihm zum Vatertag eine Karte über und über mit Blumen bemalt. Die klebte immer noch an der Wand in seinem Büro. Wusste es Sally während all dieser Momente? Zu Weihnachten und an Geburtstagen? Bei Halloween-Kinderfesten und beim Ostereiersuchen? Er wusste es nicht, doch er wusste, dass der Waffenstillstand, der nach der Scheidung zwischen ihnen herrschte, ebenfalls eine Lüge war, wenn auch eine wichtige, um Ashley zu schützen. Sie hatten von Anfang an erkannt, dass sie die Verletzlichste von ihnen war, dass sie am meisten zu verlierenhatte. Scott und Sally war in all den Tagen, Monaten und Jahren das, was auf dem Spiel stand, längst abhanden gekommen. Er wiederholte in Gedanken den Satz: Sie ist jetzt in Sicherheit.
    Scott ging zu einem Schränkchen und holte ein Flasche Scotch heraus. Er goss sich etwas davon in ein Glas, nahm einen Schluck, ließ die bittere, bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam die Kehle hinunterlaufen und erhob das Glas zu einem spöttischen, einsamen Trinkspruch: »Auf uns«, sagte er. »Auf uns alle. Was immer das bedeuten mag.«
     
    Auch Michael O’Connell dachte an Liebe. Er stand an einem Tresen und hatte ein Gläschen Schnaps in einen Krug Bier gekippt und leerte ihn in einem Zug, um die Sinne abzustumpfen. Er merkte, wie er innerlich kochte, und ihm wurde klar, dass keine Droge und kein Drink die Spannung dämpfen konnten, die sich in ihm staute. So viel er auch trinken mochte, war er zu einer widerwärtigen Nüchternheit verdammt.
    Er starrte auf den Krug, der vor ihm auf dem Tresen stand, schloss die Augen und ließ die blanke Wut an seinen Herzwänden und seinen Phantasien scheppernd widerhallen. Er hasste es, ausmanövriert, kaltgestellt oder für dumm verkauft zu werden. Folglich stand die Bestrafung der Menschen, die ihm das angetan hatten, auf seiner Tagesordnung ganz oben. Wie hatte er nur glauben können, die bescheidenen Internetprobleme, die er ihnen bereitet hatte, würden genügen. Ashleys Familie, das wusste er jetzt, brauchte wohl eine Reihe weitaus ernsterer Lektionen. Sie hatten ihn um etwas betrogen, das sie ihm schuldig waren.
    Je mehr O’Connell innerlich kochte, wenn er an die Beleidigung dachte, die sie ihm zugefügt hatten, desto mehr malte er sich Ashley aus. Er dachte an ihr rotblondes Haar, das ihrweich und vollkommen um die Schultern fiel. In seiner Vorstellung konnte er jede Einzelheit

Weitere Kostenlose Bücher