Das Opfer
Fenster und sah gerade noch, wie der ehemalige Kripomann um die Ecke lief. Michael O’Connell wischte sich mit der Hand übers Gesicht und dachte: Das war doch wirklich nicht schwer, oder? Er wusste, dass man einen Polizisten am besten dadurch überzeugte, indem man die Prügel einsteckte. Das mochte schmerzhaft oder peinlich sein, besonders, wenn es sich dabei um einen alten Knaben handelte, mit dem er spielend fertig geworden wäre, hätte der nicht eine Knarre und er selbst keine gehabt. Dann lächelte er, leckte sich die Lippen und ließ sich den salzigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Allerdings hatte er an diesem Abend eine Menge gelernt, genau wie Matthew Murphy ihm bescheinigt hatte. Vor allem aber hatte er erfahren, dass Ashley keineswegs zu einem Graduiertenstudium im Ausland war, denn wieso sollte ihre Familie ihm dieses Großmaul von einem Ex-Cop an den Hals hetzen, um ihn einzuschüchtern, wenn ihn Tausende Meilen von Ashley trennten? Das ergab nicht den geringsten Sinn. Das machten sie nur, weil sie in der Nähe war. Viel näher, als er vermutet hatte. In Reichweite? Er schätzte, ja. O’Connell atmete einmal heftig durch die Nase ein. Er wusste zwar nicht,
wo
sie war, doch früher oder später würde er es herausbekommen. Die Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Das Einzige, was zählte, war Ashley.
Das Gebäude der
News Republican
stand auf einem Grundstück, das an den Bahnhof angrenzte, mit einem deprimierenden Blick auf den Interstate Highway, Parkplätze und leere Flächen, auf denen sich der Unrat türmte. Es war nicht vollkommen verwahrlost,sondern hatte nur ausgedient – überall Maschendrahtzäune, durch die Luft wirbelnder Müll, graffitistrotzende Autobahnunterführungen. Das Gebäude der Zeitung war ein vierstöckiger, rechtwinkliger Bau, ein Klotz aus Ziegeln und Schlackenstein. Es erinnerte eher an ein Waffenarsenal oder eine Festung als eine Redaktion. Drinnen beherbergte das Gebäude mit dem kuriosen Namen
The Morgue
einen kleinen Raum voller Computer.
Eine hilfsbereite junge Frau hatte mir gezeigt, wie man auf die Dateien zugreifen konnte, und so brauchte ich nicht lange, bis ich die Artikel über Matthew Murphys letzten Tag, oder besser gesagt, seine letzten Minuten, fand.
Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete:
Exkripobeamter getötet
. Es gab zwei Untertitel:
Leiche in Nebenstraße gefunden
und
Polizei spricht von Hinrichtung
.
Ich füllte mehrere Seiten in meinem Notizbuch mit Einzelheiten aus der Flut von Meldungen dieses Tages wie auch aus einigen Folgeberichten der anschließenden Ausgaben. Offenbar gab es endlos viele Tatverdächtige. Murphy war während seiner Zeit bei der Polizei an einer Reihe spektakulärer Fälle beteiligt gewesen und hatte sich auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst als Privatdetektiv mit beängstigender Regelmäßigkeit Feinde gemacht. Ich hegte wenig Zweifel daran, dass seine Ermordung ebenso bei der Kripo von Springfield wie bei der Mordkommission der State Police, die den Fall zweifellos übernommen hatte, oberste Priorität genossen hatte. Der zuständige Staatsanwalt dürfte unter enormem Druck gestanden haben, da Polizistenmorde über eine Karriere entscheiden können. Jeder bei der Polizei hat wahrscheinlich mitmischen wollen. Wenn einer von ihnen getötet wird, stirbt immer auch ein kleiner Teil von ihnen.
Allerdings erwiesen sich die Berichte, die ich las, als ziemlich dünn und endeten nicht so wie erwartet.
Irgendwann wiederholten sich die Meldungen. Es gab keine Verhaftungen,keinen Anklagebeschluss des großen Geschworenengerichts, der mit Getöse verkündet worden wäre. Kein Strafprozess wurde anberaumt.
Es war eine Geschichte, bei der das dramatische Ende sich in nichts auflöste.
Ich schob mich vom Computer zurück und starrte nach meiner letzten Suchanfrage auf ein Fenster mit der Auskunft:
Keine weiteren Einträge gefunden
.
Da kann etwas nicht stimmen, dachte ich. Jemand hatte Murphy brutal ermordet, und es musste eine Verbindung zu Ashley geben. Auf irgendeine Weise.
Aber ich konnte sie nicht sehen.
25
Sicherheit
Die Kanzleiassistentin klopfte an Sallys offene Tür und hielt ihr einen Eilbrief entgegen.
»Der ist gerade für Sie gekommen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, von wem. Soll ich mich darum kümmern?«
»Nein, ich mach das schon. Ich weiß, was es ist.« Sally dankte ihrer Mitarbeiterin, nahm den Umschlag und schloss die Tür hinter sich.
Sie lächelte. Murphy war ein übertrieben
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